Sturmkönige 01 - Dschinnland
eigenen Herzschlag hörte.
Zwei Soldaten traten mit schepperndem Rüstzeug auf Tarik zu, aber der Kalif brachte sie mit einer Handbewegung zum Stehen. »Er wird uns sein Auge aus freien Stücken zeigen.«
Der Audienzsaal war lichtdurchflutet. Der weiße Marmor reflektierte die Helligkeit bis in die hintersten Winkel. Nicht einmal die Säulengalerie jenseits des Throns schien Schatten zu werfen.
»Tarik…« Sabatea ergriff seine Hand, ungeachtet der forschenden Augen des Kalifen.
»Nicht«, sagte er leise und löste seine Finger ganz sachte aus ihren. »Sieh zu, dass dir nichts geschieht.«
Dann wandte er das Gesicht wieder dem Kalifen zu, schob beide Hände von oben hinter die Augenbinde und zog sie übers Kinn nach unten.
Tief in seinen Gedanken ertönte schallendes Gelächter. Fremdes, bösartiges, zufriedenes Gelächter.
Der Schmerz bohrte sich mit der Macht eines glühenden Dolches in sein Hirn. Hätte ihm einer der verborgenen Bogenschützen einen Pfeil ins Auge gejagt, so hätten der Schock und die Pein nicht größer sein können. Ein gellender Schrei stieg in ihm auf. Er wollte ihn zurückhalten, in seiner Kehle einschließen, wollte sich nicht die Blöße geben vor all diesen Menschen, vor dem Kalifen, sogar vor Sabatea, die als Einzige verstehen konnte, was mit ihm geschah. Hitze erfüllte seinen Schädel bis zum Bersten, ein Netz aus Feuer, das sich ausgehend von seinem Auge – seinem Auge? – über sein Gesicht verästelte, durch die Poren sickerte und sein Gehirn umschloss, sich enger zusammenzog, noch enger.
Und dann sah er.
Sah Harun al-Raschid auf seinem Thron, nicht hager und zitternd wie ein kranker Mann, sondern aufrecht und kraftvoll, die Wangen gerundet, die Hände nicht länger knochig, den Blick auf Tarik, nein, durch ihn hindurch gerichtet.
Neue Eindrücke brannten sich durch den Schmerz, ritten auf diesem Strom der Qual, der durch all seine Sinne tobte. Höflinge und Diener umgaben den Thron, aber es waren weniger und andere als noch vor einigen Augenblicken. Verschleierte Tänzerinnen schlängelten sich gertenschlank umeinander. Ein muskulöser schwarzer Hund schlief neben dem Thron, dort, wo gerade eben noch Khalis gestanden hatte, erwachte plötzlich, hob den spitzen Schädel und witterte etwas; dann sah er genau in Tariks Richtung, erwiderte dessen Blick, fletschte die Zähne, sprang auf…
Der Schrei explodierte in Tariks Kehle. Das Gleißen des Audienzsaals schlug über ihm zusammen. Er verglühte darin, schmolz zu einem unsichtbaren Punkt im Licht. Instinktiv hatte er die Hände vors Gesicht geschlagen, grub seine Fingerspitzen in das linke Auge, wollte es herausreißen und dem Kalifen vor die Füße schleudern. Da hast du deine Wunde! Ist sie tief genug? Ist sie roh genug, du Bastard?
Jemand schrie seinen Namen, panisch, herzzerreißend. Sabateas Stimme, irgendwo jenseits des Lichts jenseits der Schmerzen, ganz weit außen am Rand seiner Wahrnehmung, wo die Wirklichkeit hinter einer Mauer aus Leid und Hitze lag und keine Bedeutung mehr hatte.
Er stürzte zu Boden, wurde halb aufgefangen. Jemand riss ihm die bohrenden, grabenden Finger vom Auge und presste sofort etwas anderes darauf, einen kühlen Handballen, dann groben Stoff. Er spürte es und hatte doch das Gefühl, dass all das einem anderen zustieß, nicht ihm selbst, und dass es anderswo stattfand, nicht da, wo er gerade war, mitten im Licht und im Schmerz.
Und – Lachen. Noch immer das gemeine, tückische Lachen irgendwo im Hintergrund, das kreischende Gelächter von jemandem, der nicht mehr an sich halten konnte.
Bist du das, Amaryllis?, schrie er in die Leere seines Verstandes hinaus. Was ist das, das du mich sehen lässt? Warum ist alles gleich und doch ganz anders?
Keine Antwort. Nur Lachen und Lachen und Lachen.
Und er begriff.
Du hast dich geirrt, Amaryllis! Das ist nicht die Zukunft! Das ist die Gegenwart, eine andere Gegenwart! Ich habe Menschen gesehen, den Kalifen, nicht älter als heute, aber gesünder, stärker, nicht ausgezehrt vom Krieg gegen euch Dschinne.
Amaryllis… Antworte mir!
Aber stattdessen hagelte es Schläge in sein Gesicht, ein greifbarer, fast willkommener Schmerz. Geschrei und Wortfetzen um ihn herum: »… wahnsinnig geworden…« – »… tollwütig wie ein Hund…« – »… zu den anderen Krüppeln und Narren hinaus…«
Und die Stimme Sabateas, hoch und panisch vor Entsetzen: »Tut ihm nichts! Lasst ihn in Frieden! Er hat doch nichts verbrochen!« Ihre Hand in seiner,
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