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Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Pferdeleibern emporgewachsen, als wollten sie nach ihnen greifen. Unvermittelt stellte sich das Leittier auf die Hinterbeine, stieß erneut einen der fremdartigen Laute aus und schlug so heftig mit den Schwingen, dass der Luftzug herüber zu Sabatea und Junis wehte. Der Geruch war eine absonderliche Mischung aus Pferdestall, Schmierfett und Zimt.
    Das Ross erhob sich vom Wehrgang, und alle anderen folgten ihm. Nacheinander schwebten sie mit ausgebreiteten Flügeln in den Abendhimmel. Dabei bewegten sie nicht nur die Schwingen, sondern galoppierten auf dem Wind, als fänden ihre Hufe Widerstand im Nichts. Sabatea und Junis sahen zu, wie die Herde in einem weiten Bogen nach Westen jagte, hoch über den Dünen der Karakumwüste jenseits des Flusses. Sie folgten dem Lauf der Sonne, angestrahlt von ihrem letzten feurigen Schein.
    Sabatea bemerkte erst jetzt, dass Junis ihre Hand ergriffen hatte. Seine Finger waren kühl. Sie sah ihn nicht an.
    Die Tiere waren endgültig fort, der Himmel ein Fanal aus Rot, durchzogen von Schwarz und Violett.
    Junis drehte langsam den Oberkörper und wollte sie küssen. Sie war noch immer wie berauscht, schloss die Augen und wartete.
    Aber bevor seine Lippen die ihren berühren konnten, zog er mit einem Mal seine Hand zurück. Sie schlug die Augen auf und sah, wie er aufgeregt den Korb von seinem Rücken zerrte.
    Sie atmete tief durch. »Die Sanduhr.«
    Er nickte hektisch. »Niemals, niemals darf einer von uns die Sanduhr vergessen, sobald wir den Boden berühren.«
    Sie schüttelte ihren eigenen Korbtornister ab und versuchte ungeschickt, vom Teppich aufzustehen. Ihre Knie gaben nach, und sie musste sich mit beiden Händen abstützen, um nicht hinzufallen.
    Junis zog die Sanduhr aus dem Gepäck. Die beiden milchigen Kristalltrichter ließen nur wenig Licht durch. In der Dämmerung war der schwarze Sand im Inneren kaum zu erkennen. Er stellte die Uhr neben sich auf den Teppich, holte zum ersten Mal wieder Luft und stieß ein leises Seufzen aus.
    Wacklig auf den Beinen, machte Sabatea einige Schritte. Sie wollte hinüber zu den Zinnen auf der Westseite gehen, um sich abzustützen. Aber sie waren zu weit entfernt, mindestens zehn Meter. So weit wollte sie sich nicht von Junis und dem Teppich entfernen.
    Die Nacht trank das Land und den Wall und die beiden einsamen Menschen.
    »Ich bin froh«, sagte sie leise.
    »Worüber?«
    »Dass wir sie gesehen haben. Vielleicht waren sie das letzte Schöne hier draußen.«
    »Ich hab immer noch dich«, sagte er ein wenig unbeholfen.
    Sie ging zurück und küsste ihn auf die Stirn. Aber bevor er sie an sich ziehen konnte, entglitt sie ihm schon wieder, blieb aufrecht stehen und blickte schweigend der Sonne nach.

 
Zwei Stunden
 
 
    Tarik flog bis in die Nacht hinein und nahm die Hand nicht aus dem Muster, trieb es vorwärts, immer schneller. Manchmal sprach er mit dem Teppich, so wie damals. Auf sich allein gestellt im Dschinnland, war das die einzige Möglichkeit, eine Stimme zu hören. Auch wenn es nur die eigene war.
    Früher hatte er sich hier draußen kleine Rituale erschaffen, vor jeder Landung, jedem Aufsteigen, vor jedem Schluck Wasser und jedem Bissen Brot. Er hatte bestimmte Sätze zum Teppich gesagt. Oder eine Melodie gesummt. Manchmal war er mit dem Finger einen bestimmten Teil des Musters nachgefahren, als male er ein geheimes Zeichen in weichen Sand. Rituale schufen ein Gefühl von Vertrautheit, vor allem in der Fremde. Sie hatten ihn bei Verstand gehalten.
    Jetzt versuchte er, sich an Rituale zu erinnern, die er häufiger vollzogen hatte als andere. Nahm sich fest vor, sie wieder aufzunehmen. Und tat es dann doch nicht, weil jeder Gedanke an früher unweigerlich die Erinnerungen mit sich brachte – all das, wovon er nichts hören wollte, nichts sehen, schon gar nichts mehr fühlen.
    Um ihn war es stockdunkel. Aber es standen Sterne am Himmel, hier draußen viel klarer als in Samarkands fackelhellen Nächten. Die Reinheit der menschenleeren Landschaft brachte das mit sich. Kein Rauch von Nomadenfeuern stieg zum Himmel empor. Nichts als absolute Leere.
    Das Sternenlicht übergoss die Ausläufer der Wüste mit Silberreif. Nicht mehr weit bis zum Amu Darja. Nicht mehr weit bis zur Alten Bastion.
    Dann sah er es vor sich auftauchen, das steinerne Ungetüm am Ufer des Flusses. Eine mächtige Mauer, in ihrem geborstenen Kern von Gängen durchzogen. Die meisten waren von eingestürzten Teilen des Walls verschüttet worden. Manche aber mochten

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