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Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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seinem Ohr. Fühlte ihre Hände auf seiner Haut.
    All die Jahre hatte er diese Erinnerungen verflucht. Sie hatten ihn im Schlaf gequält und bei Tage gemartert. Jetzt hätte er sie loswerden können, ein für alle Mal.
    Und doch erschienen sie ihm plötzlich wertvoller als irgendetwas sonst. Solange er sich an Maryam erinnern konnte, lebte sie in seinen Gedanken weiter. Und umgekehrt war es nicht anders: Selbst heute noch, sechs Jahre nach ihrem Tod, war sie es, die ihn am Leben hielt.
    Maryam linderte seinen Schmerz, weil sie noch immer da war, irgendwo. Immer noch ein Teil von ihm. Ihre Stimme, ihr Lächeln. Das Feuer ihrer verrückten, kindischen Hoffnungen.
     

     
    Er flog weiter, bis der Morgen graute.
    Der Amu Darja mit seinem vergifteten Wasser lag weit hinter ihm im Osten. Unter ihm war nichts als offene Wüste, ein endloses Dünenmeer. Keine Spur von Dschinnen. Das wunderte ihn.
    Die Nächte in der Karakum waren frisch, aber nicht so eiskalt wie in anderen Sandwüsten. Am Tag wurde es heiß, doch der Gegenwind des Teppichritts kühlte seine Haut. Nur vor Verbrennungen musste er sich schützen. Sobald die Sonne über dem Horizont stand, würde er seinen Kopf mit Tüchern umwickeln, wie es die Beduinen und Nomaden taten. Damals, als es noch Nomaden gegeben hatte.
    Er folgte dem Verlauf der alten Seidenstraße. Manche Karawanenmarkierungen waren noch heute zu erkennen, wenn man wusste, wonach man zu suchen hatte. Nachts fand er den Weg mithilfe der Sterne, tagsüber hielt er Ausschau nach markanten Felsformationen, die mancherorts aus dem Sand ragten. Spätestens morgen Abend wollte er die Berge des Kopet-Dagh erreichen, das fruchtbare Gebirge inmitten der Wüste. Früher hatte es dort Dörfer gegeben, tausende Menschen, die auf den grünen Hängen ihre Ernten einbrachten. Die Dschinne hatten dem ein Ende gemacht.
    Zwischen ihm und den Bergen lagen noch anderthalb Tage offene Wüste. Einige Oasen an der Seidenstraße waren vollständig ausgelöscht worden; nichts verriet mehr, wo sie einst gelegen hatten. Andere aber wirkten, als hätte sich seit dem Auftauchen der Dschinne nichts verändert.
    Tarik flog über eine hinweg, die beinahe einladend wirkte: ein dichter Palmenhain am Ufer eines schmalen Gewässers. Nur dass ihm die Schatten zwischen den Bäumen ein wenig zu dunkel erschienen und das Wasser, obgleich glasklar, vollkommen reglos dalag, als wäre die Oberfläche zu Kristall erstarrt. Möglich, dass es nur ein Trugbild war und sich darunter etwas anderes verbarg.
    Allmählich wurde ihm klar, dass er sich auf seine Erfahrungen nicht mehr verlassen konnte. Zu viel Zeit war vergangen. Damals hatte er sich hier ausgekannt wie kaum ein anderer. Aber das war Jahre her. Der Ausbruch Wilder Magie, der wie eine unsichtbare Sturmfront über Khorasan und die Karakumwüste hinweggetobt war, hatte die Gesetze der Natur auf den Kopf gestellt. Dieselbe Magie hatte die Dschinne hervorgebracht, aber sie hatte weit mehr getan als das. Doch was genau? Philosophen, Priester und auch Magier hatten versucht, darauf eine Antwort zu finden. Was war tatsächlich aus der Welt geworden? Viele der alten Regeln galten nicht mehr. Nur folgten die Wandlungen keinem erkennbaren Muster. Es war, als hätte jemand im Schlaf um die Menschen herum ein neues Haus errichtet, das auf den ersten Blick aussah wie das alte – nur dass sich die Türen am einen Tag nach außen öffneten, am anderen nach innen. Oder dass Wasser aufwärtsfloss. Und die Fenster manchmal Kinder fraßen.
    Wäre alles neu und fremd gewesen, darauf hätte man sich einstellen können. Aber das Beängstigende und Entsetzliche im Vertrauten zu suchen überstieg die Fähigkeiten des menschlichen Verstandes.
    Wer das Dschinnland durchqueren wollte, lebte deshalb von einem Tag zum nächsten. Eine Planung war unmöglich. Tarik war damit immer gut zurechtgekommen. Aber die letzten Jahre hatten ihn träge gemacht, allzu bequem in seinem festgezurrten Leben zwischen Tavernen und nächtlichen Rennen. Sich selbst aufzugeben war immer der letzte Fehler, den man hier draußen begehen konnte. Er musste wieder lernen, so zu denken wie damals, und mehr noch: fühlen wie damals. Ein Ritt durch das Dschinnland erforderte Intuition statt Vernunft, Reaktionsgeschwindigkeit statt eingeübtem Können.
    Doch selbst im Bewusstsein einer maßlosen Bedrohung verspürte er vor allem ein Gefühl, das ihn verstörte und zugleich ganz trunken machte.
    Er war jetzt der Jäger, nicht mehr der

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