Sturmkönige 01 - Dschinnland
mit Erdbeben? Was, wenn ein Erdrutsch den Spalt dort unten verschüttet hätte? Es muss andere Fluchtwege aus dieser Höhle gegeben haben, und wahrscheinlich mehr als nur einen. Keine Stadt hat nur ein einziges Stadttor – erst recht nicht, wenn zwei verfeindete Stämme darin leben.«
Es gab viele Geschichten über die Fehden der Rochvölker untereinander. Die Kriege zwischen den Hängenden Städten waren der Stoff von Legenden: zwei gigantische Rochhorste, die so nah beieinanderlagen, dass man einen Speer vom einen zum anderen schleudern konnte. Allein das war etwas, das sich nach menschlichen Maßstäben kaum nachvollziehen ließ. Und obgleich sich die Bewohner dieser Städte hassten und manchen Kampf miteinander ausfochten, gingen sie dennoch gemeinsam auf Menschenjagd. Viele der alten Geschichten zogen den Streit der Hängenden Städte ins Lächerliche, verharmlosten die Stammeskriege zu grotesken Wettkämpfen und Streichen. Einige aber erzählten davon, dass die Roch einen anderen Weg gefunden hatten, um ihre Schlachten auszutragen: Sie ließen die gefangenen Menschen für sich kämpfen, bewegten sie wie Figuren auf einem Spielbrett und stachelten sie auf, einander niederzumachen, um so Entscheidungen über die Streitigkeiten der Geflügelten herbeizuführen.
Das alles war lange her. Mythen aus grauer Vorzeit, als die Menschheit noch keine eigenen Reiche errichtet hatte, sondern mit Keulen bewaffnet in Rotten durch die Welt gezogen war. Doch das änderte nichts daran, dass Tariks Vater die Hängenden Städte gesehen hatte; das, was von ihnen übrig geblieben war. Und Sabatea täuschte sich, wenn sie annahm, dass Jamal damit geprahlt hätte. Ganz im Gegenteil: Er hatte die Stimme gesenkt, wenn er davon sprach, und immer wieder nervös zum Fenster gesehen, als fürchtete er, die Geister der Roch wären ihm durchs Dschinnland bis nach Samarkand gefolgt.
Tarik blickte aus ihrem Versteck über die schroffen Gipfelkämme des Kopet-Dagh. Durch die Rauchschwaden waren sie in der Abenddämmerung nur zu erahnen. »Wenn wir Junis retten wollen, bleibt uns keine Zeit, das ganze Gebirge nach geheimen Fluchtwegen abzusuchen. Jede einzelne Höhle könnte dort hinunterführen. Abgesehen davon, dass wir Monate damit beschäftigt wären, hausen in einigen dieser Grotten Wesen wie das da unten im Schlamm. Und wahrscheinlich noch größere.«
»Wenn du Junis helfen willst, dann kannst du unmöglich durch diesen Spalt fliegen und hoffen, dass dich niemand dabei entdeckt.«
»Warum liegt dir mit einem Mal so viel daran, Junis zu befreien?«, fragte er.
»Ich mag deinen Bruder. Aber er ist es nicht, der mich neugierig macht – das bist du.« Sie schob ihre schmale Hand unter seine, umfasste seine Finger. Ihr prüfender Blick wurde eindringlicher. »Da ist noch etwas anderes, oder? Etwas, über das du nicht sprichst.«
Er wich ihren Augen aus, aber er ahnte schon, dass sie jetzt nicht mehr nachgeben würde.
»Was ist es?«, fragte sie noch einmal. »Ich weiß, es geht dir um Junis – aber nicht nur um ihn.«
Er hasste es, dass seine Stimme mit einem Mal belegt klang wie die eines Kindes, das bei einem Diebstahl auf dem Basar ertappt worden war. »Es ist lange her«, flüsterte er.
Sie wartete geduldig. Draußen vor der Nische im Fels wurde es Nacht, und ohne ein Feuer würden sie bald in völliger Finsternis sitzen. Aber er hatte die Befürchtung, dass ihre Augen selbst im Dunkeln zu ihm herüberglühen und seine Gedanken erforschen konnten. Was ihn verwunderte, war, dass ihn das nicht mehr wütend machte. Verwirrt, ja. Sogar ein wenig unsicher. Aber nicht länger zornig. Er fühlte sich bis ins Innerste entblößt, aber er schämte sich nicht dafür. Nicht vor ihr.
Die Erinnerung an die Nacht am Himmel über Samarkand kehrte zurück. Nicht an die schlichte Körperlichkeit ihrer ersten Begegnung, sondern an etwas anderes, das er schon damals gespürt hatte. In ihrer Stimme, ihren Berührungen. Und immer wieder in ihren Augen.
»Maryam«, flüsterte er, auch auf die Gefahr hin, dass sie es falsch verstehen könnte.
Aber sie nickte nur. Wahrscheinlich hatte sie es längst geahnt. »Dort drinnen? In dieser Höhle?«
Er brachte es nicht über sich, darauf zu antworten.
»Deine Wut auf Junis, diese ganzen sechs Jahre lang… Das war nicht, weil er dir die Schuld an ihrem Tod gegeben hat. Sondern weil er durchschaut hat« – sie zögerte – »dass du selbst dir die Schuld daran gibst.« Sie fasste seine Hand noch fester.
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