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Sturmkönige 01 - Dschinnland

Sturmkönige 01 - Dschinnland

Titel: Sturmkönige 01 - Dschinnland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Eigelb; und dennoch bewegte es sich in der Höhle, als Amaryllis’ Blick von Tarik zu Maryam und wieder zurück wanderte.
    Allmählich fand Tarik zurück zu jener Beherrschtheit, die ihn so viele Konfrontationen im Dschinnland hatte überleben lassen. Hier draußen hatte er schon scheußlichere Kreaturen gesehen als diese, um ein Vielfaches größer, bizarrer und unmenschlicher. Und doch hatte ihn keine derart verstört wie dieser Fremde aus der Wüste. Die Ungeheuer, die nach dem Erscheinen der Dschinne aus dem Nichts der Karakum aufgetaucht waren, besaßen keine Ähnlichkeit mit Menschen, und es fiel leicht, in ihnen nicht mehr zu sehen als mordlüsterne Tiere. Amaryllis aber war etwas ganz und gar Fremdes, das sich den missglückten Anschein eines Mannes geben wollte. Etwas, das um jeden Preis versuchte, als Mensch aufzutreten, obgleich sich hinter dieser Maskerade kein Funke Menschlichkeit verbarg.
    Tarik spürte es, als er einmal mehr den Blick des Narbennarren kreuzte. Das hellwache Auge einer Frau und der welke Augapfel eines Mannes.
    Maryam sprang von hinten auf Tarik zu, packte ihn an seinem Wams und zerrte ihn zurück. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er vollkommen steif dagestanden hatte, gebannt von diesem fremden, mächtigen Blick. Sie zog ihn mit sich in die Richtung des Teppichs, und nach zwei Schritten schüttelte er sein Entsetzen ab, warf sich herum und lief Seite an Seite mit ihr.
    »Ich sehe eine Welt ohne Zauber«, sagte der Narbennarr in ihrem Rücken. Selbst seine Stimme klang so, als wäre sie aus vielen anderen zusammengesetzt, kein Chor, sondern eine unwirkliche Folge von Höhen und Tiefen, die zu verschieden waren, um aus einer einzelnen Kehle zu dringen.
    »Ich sehe eine Welt ohne mich«, sagte er leise.
    Tarik und Maryam erreichten den Teppich nicht mehr – wohl aber ihre Schatten, die sich schlagartig vor ihnen über den Sand dehnten, lang und dunkel, als wäre hinter ihnen eine neue, hellere Sonne aufgegangen.
    Beide blieben stehen. Sahen einander stumm und mit weiten Augen an.
    Der Narbennarr hatte die Schärpe gelöst und sein Gewand geöffnet, zog es mit ungleichen Händen auseinander – einer großen, kräftigen Pranke und der schmalen, zierlichen Hand eines Musikanten. Selbst seine Finger waren an den Wurzeln vernarbt, angenäht wie bei einer Puppe, die mit falschen Stoffen ausgebessert worden war. Einige Nägel wuchsen noch, lang und rund wie Löwenkrallen, andere waren abgestorben und schwarz verfärbt.
    Aus seinem Gewand strahlte weißes Licht. Kein gleichförmiger Schein, sondern ein Fächer aus flirrenden Strahlen, die wie Fühler über den Wüstensand tasteten. Dann über Maryam und Tarik.
    Wo das Licht sie berührte, sahen sie den Tod.
    Später, in seinen Träumen, würde Tarik es das Aaslicht nennen, weil dies das einzige Wort war, das dem nahekam, was mit ihnen geschah. Es war keine wirkliche Metamorphose, nur der äußere Anschein einer Verwandlung. Das Vorgaukeln eines rasanten Zerfalls von lebenden, atmenden Menschen zu uralten Kadavern, eingefallen wie mumifizierte Wüstenleichen. Aber damit endete es nicht. Ihre Leiber zerfielen im Stehen, Stück für Stück, als pickten unsichtbare Geier das Fleisch von ihren Knochen.
    Maryam begann zu schreien, und bald schrie Tarik mit ihr.
    Sie waren nicht das Einzige, das im Aaslicht verging. Die Brunnenmauer zerbröckelte, Sand verschüttete den runden Schacht. Die Dünen schoben sich in schwindelerregender Schnelligkeit über- und untereinander. Nur Tarik und Maryam standen noch immer da, gefangen in einem endlos gedehnten Augenblick des Verfalls.
    Und Amaryllis sagte: »Seht, wie die Welt eine andere wird als die, die ihr kennt. Seht die Welt ohne euch, ohne das Leben, das ihr liebt. Seht, wie ich sehe, und versteht, was ich tun muss.«
    Tarik kämpfte dagegen an, wehrte sich mit all seiner Willenskraft. Er konnte den Bann des Lichts nicht durchbrechen, nicht einmal schwächen, aber es gelang ihm, ein Stück weit Gewalt über sich selbst zu erlangen. Das Schwert war noch immer in seiner Hand, gehalten von dürren, rohen Fingern, und er streckte den anderen Arm aus, um den Kadaver, der Maryam war, zu packen und mit sich zu zerren, dorthin, wo der Teppich nicht mehr zu sehen war, aber immer noch sein musste, wenn dies hier nicht die Wirklichkeit, sondern nur eine Täuschung war.
    Amaryllis’ Fratze schwebte im gleißenden Licht, als der Narbennarr neben Maryam auftauchte. Er sah in ihre toten Augen, und sie erwiderte den

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