Sturmkönige 03 - Glutsand
vielleicht. Oder hundertfünfzig. Und das sind nur die, die tot sind. Noch viel mehr sind verletzt und manche werden bald sterben.«
Junis nahm noch immer nichts von der Umgebung wahr, nur ihr Gesicht, die schlecht vernarbten alten Wunden und die frischen, die er nur in ihren Augen sah. »Er hätte einen anderen Weg nehmen können«, flüsterte er heiser. »Zum Ufer hin, dort gibt es keine Pferche, und dann über das Wasser…«
»Er hat es sich einfach gemacht. So wie du.«
Er presste die Lippen aufeinander, wollte eigentlich widersprechen, und brachte doch kein Wort heraus. Er hätte die Grausamkeit der Dschinne dagegen anführen können, die Gnadenlosigkeit, mit der sie seit einem halben Jahrhundert diesen Krieg führten, die ausweglose Lage, in die sie die Menschen gebracht hatten und die es überhaupt erst möglich gemacht hatte, dass Wesen wie Jibril so viel Macht und Einfluss erlangten.
Aber das alles war ohne Bedeutung. Zwischen ihm und ihr zählte das nichts. Für dieses Mädchen ging es nicht um Bagdad oder um den Wiederaufbau einer Welt, die bei ihrer Geburt schon seit vierzig Jahren nicht mehr existiert hatte. Sie sah nur ihn, der ihren denkbar schlimmsten Feind befreit hatte. Sie kannte nur die Gefangenschaft, nur ein Dasein unter der Faust der Dschinne; was sie und die anderen sich innerhalb dieser Grenzen bewahrt hatten, war pures, animalisches Leben – es war das Einzige, das sie besaß und für das sie zu kämpfen bereit war. Was Junis Verrat nennen mochte, war für sie eine der wenigen Waffen, die ihr zur Verfügung standen. Und was er für eine menschenunwürdige Existenz halten mochte, das war ihre Existenz. Es war alles, was sie hatte. Die Sturmkönige hatten das missachtet, hatten sich voller Arroganz darüber hinweggesetzt und allein für ihre Sache Gerechtigkeit und Ehrbarkeit deklariert. Und er selbst war nicht besser als sie. Er hatte den selben Fehler gleich zweimal begangen. Das erste Mal, als er sich gegen seine Überzeugung am Angriff der Sturmkönige auf den Heerzug beteiligt hatte. Und nun erneut, indem er Jibril wegen eines Schwurs befreit hatte, von dessen Richtigkeit er selbst nicht mehr überzeugt gewesen war.
Er hatte sein Ziel erreicht – und dennoch versagt. Und was immer dieses Mädchen ihm vorwerfen mochte, sie hatte Recht damit.
»Komm«, sagte sie, »steh auf. Sie erwarten dich.«
Er setzte sich auf, ignorierte den Schmerz, und schaute sich um. Die Helligkeit tauchte noch immer die gesamte Umgebung in ein überirdisches Flirren und Gleißen. Erst allmählich begann das Licht zu verblassen, seine Augen gewöhnten sich daran.
Er befand sich auf der Spitze der Zikkurat, inmitten eines halbrunden Ruinenfelds, das alles war, was vom oberen Stockwerk des Turms geblieben war. Mehrere Dschinne schwebten über den Trümmern der Lehmmauern, die den äußeren Rand begrenzten. Sie trugen die gleichen wuchtigen Rüstungen, die er zum ersten Mal bei der Leibgarde der Dschinnfürsten im Zagrosgebirge gesehen hatte: schwere Harnische, gewölbte Schulterprotektoren und stählerne Halskrausen. Auch ihre Waffen waren besser gearbeitet als die der übrigen Dschinne.
Er versuchte, sich an den äußeren Aufbau der Zikkurat zu erinnern. Acht Stockwerke waren unversehrt gewesen.
Über ihnen war das obere Drittel des Turms vor langer Zeit auf einer Seite eingestürzt, jeweils die Hälfte der Etagen lag in Trümmern. Demnach musste er sich im elften oder zwölften Stockwerk befinden, an die neunzig Meter über der Wüste und dem Ufer des Flusses.
»Warum haben sie mich hier hochgebracht?«, fragte er das Mädchen.
»Sie wollen dir etwas zeigen.«
Er schaute sich mit verkniffenen Augen um. Die Dschinnwächter beobachteten ihn feindselig, ihre Waffen im Anschlag. Es war Tag geworden, die Sonne brannte heiß auf die Reste der Turmplattform herab. Aber nicht einmal der strahlend blaue Himmel konnte darüber hinwegtäuschen, dass es kein vollkommeneres Abbild der Hölle geben mochte als jenes, das sich unterhalb der Zikkurat über der Wüste erstreckte.
Das Mädchen half ihm beim Aufstehen. Einer der Dschinne verzog höhnisch das Gesicht. Sie hatten ihm nichts gebrochen, aber jeder Fingerbreit seines Körpers tat weh, als wäre der Schmerz bis zum größtmöglichen Maß ausgereizt worden, gerade weit genug, dass keine lebensbedrohlichen Schäden zurückblieben. Aber warum diese Mühe? Er verstand es nicht. Warum hatten sie ihn nicht sofort getötet?
Zwischen Trümmern und niedrigen
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