Sturmkönige 03 - Glutsand
Schutthügeln führte ihn das Mädchen zum Rand der Plattform. Als sie um die Reste einer Mauer bogen, öffnete sich unter ihnen das Panorama des Dschinnlagers, Tausende und Abertausende Krieger, die in Pulks und Reihen auf den Angriff warteten. Über ihnen kreisten Schwärme aus Schwarmschrecken und Sandfaltern. Auch an den Außenwänden der Zikkurat saßen einige der Rieseninsekten, rieben die aufgeheizten Panzer aneinander oder betasteten sich mit den Fühlern.
In weiter Ferne lag Bagdad, eine verschwommene Masse hinter Vorhängen aus wabernder Hitze und den letzten dünnen Rauchfahnen der Schlammvulkane. Offenbar hatten die Dschinne auf weitere Eruptionen verzichtet. Möglicherweise war ihnen bewusst geworden, dass die Dunkelheit rund um die Stadtmauern ihnen selbst ebenso hinderlich war wie den Verteidigern.
Das Mädchen hielt Junis an der Hand wie einen älteren Bruder, dem sie etwas Faszinierendes zeigen wollte. Er nahm ihr nicht übel, was sie getan hatte. Es war nicht mal ein Akt des Verzeihens oder der Rücksichtnahme auf das, was sie durchgemacht hatte. Vielmehr war er überzeugt, dass sie aus ihrer Sicht das einzig Richtige getan hatte.
Und plötzlich fragte er sich, ob nicht auch die Dschinne aus ihrer Sicht richtig handelten. Ob sie nicht einen Grund für ihren beispiellosen Vernichtungsfeldzug gegen die Menschheit hatten, der ihnen vollkommen schlüssig, ja gerecht erscheinen musste.
Aus dem Augenwinkel erkannte er, dass da noch jemand war, links von ihnen. Der Ausblick über die Streitmacht vor den Toren Bagdads hatte ihn überwältigt und beinahe gelähmt. Jetzt erst fuhr er herum und sah, was da neben ihm schwebte.
Der Dschinnfürst löste sich aus dem Schatten der Lehmziegeln, als wäre er gerade eben noch eins mit dem Mauerwerk gewesen. Auf seinem Knochenthron wirkte er unendlich alt und gebrechlich, obwohl doch auch er wie alle seine Artgenossen erst mit dem Ausbruch der Wilden Magie in die Welt geboren worden war. Seine geflammten Hautmuster waren stärker ausgeprägt als bei den meisten anderen und bedeckten seinen ganzen Körper. Ungewöhnlich war, dass sie im Kontrast zur Purpurhaut nicht in bunten Farben schillerten, sondern vollkommen weiß waren. Sein gesamter Leib war von der Stirn bis zu dem faltigen Hautzapfen, der wie das gebogene Ende einer Schnecke auf dem Thron ruhte, mit zahllosen dieser schneeweißen Streifen überzogen, die das wenige Purpur, das dazwischen zu sehen war, umso stärker betonten.
Der Dschinnfürst trug kein Menschenhaar als Kopfschmuck wie seine Untergebenen, auch keine Krone oder andere Symbole seines Ranges. Einige seiner Fangzähne waren gesplittert; einer hatte irgendwann die eingefallene Wange unmittelbar neben dem Mund aufgerissen. Die Wunde war schlecht verheilt, die Narbe zog den linken Mundwinkel hässlich nach unten.
»Du hast Schmerzen«, stellte der Dschinnfürst fest, während er Junis eindringlich musterte.
Die Hand des Mädchens drückte Junis’ Finger noch ein wenig fester. Merkwürdigerweise verspürte er keine Angst vor dem Sterben. Diese Kreatur dort vor ihm, die sich mit knochigen Fingern an die Lehnen des schwebenden Throns klammerte, war bestenfalls so etwas wie ein Erfüllungsgehilfe für den Tod, der ihm zweifellos bevorstand. Es fiel ihm schwer, irgendetwas anderes als Abscheu zu empfinden.
Der Dschinn achtete nicht auf das Mädchen an Junis’ Seite. Sein Blick blieb fest auf seinen Gefangenen gerichtet. Er musste wissen, dass Junis für das Ende zweier Dschinnfürsten verantwortlich war, aber er wirkte weder zornig noch beeindruckt. Stattdessen stieß er ein Seufzen aus, das ihn menschlicher machte als irgendetwas, das er hätte sagen können.
Junis sprach noch immer nicht. Wartete ab.
Der Fürst streckte den rechten Arm aus, dreigliedrig wie ein Insektenbein, und deutete über das riesige Heerlager. Beide Ellbogen waren weiß verschorft, und Junis musste seinen Blick davon losreißen, um der Geste des Dschinns zu folgen.
»Was siehst du?«, fragte die Kreatur auf dem Thron.
Junis schwieg.
»Das dort unten«, fuhr der Dschinnfürst fort, »ist nur eine der drei Armeen, die sich in den nächsten Stunden zusammenschließen werden, um eure Stadt zu vernichten. Du warst beim Angriff in den Bergen dabei, hörte ich. Dann siehe, wen du angegriffen hast und wem deine Gefährten zum Opfer gefallen sind.«
Junis legte größtmögliche Verachtung in seinen Blick, aber er hatte Zweifel, dass er damit irgendeine Reaktion provozieren
Weitere Kostenlose Bücher