Sturms Jagd
Frauenstimme!
Wieder stand der Alte auf und ging zur Tür. »Ich werde mal nachschauen, was da los ist. Und wo der Junge bleibt. Vielleicht hat er ja schon etwas herausgefunden über diesen … äh, Unfall. Einen Moment.«
Er war kaum verschwunden, als Mara bereits zu den Karteikästen hinübereilte. Ohne eine Sekunde zu verlieren, griff sie sich das Fahrtenbuch, das in dem Kasten mit der Aufschrift K-VS 1445 lag. Es war ein kleines grünes Büchlein, nicht dicker als ein Notizblock. Sie blätterte darin, auf der Suche nach den letzten Einträgen. Wie es aussah, wurden die Bücher sorgfältig geführt, denn neben Datum und Uhrzeit der einzelnen Fahrten waren dort auch die Namen der jeweiligen Fahrer vermerkt. Der Name, der am häufigsten auftauchte, lautete: Petrow. Mara meinte, diesen Namen schon einmal gehört zu haben, war sich jedoch nicht sicher.
Lohmann war entrüstet. »Was tun Sie da? Legen Sie das sofort wieder zurück!«
Sie blätterte weiter und fand den fraglichen Dienstag, den Tag von Lauras Verschwinden. Ihr Zeigefinger fuhr an den Einträgen entlang, die in der Spalte Uhrzeit standen. »Warte, gleich wissen wir mehr … Sechs Uhr bis zehn Uhr … Zehn bis dreizehn … Dreizehn bis …«
»Das ist illegal! Dieses Buch ist fremdes Eigentum.« Lohmann sprach laut.
Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Was? Das Teil ist eine Spur, ein Beweisstück in einem laufenden Ermittlungsverfahren. Warst du krank, als auf der Uni Strafprozessrecht gelehrt wurde?«
Er wollte ihr das Fahrtenbuch aus der Hand reißen, doch sie wechselte es von der Rechten in die Linke, sodass er ins Leere griff.
»Legen Sie es zurück!«, wiederholte er seine Forderung, diesmal wesentlich lauter.
»Soll ich dir ein Megafon besorgen?«, fauchte sie.
»Sie können doch nicht einfach …«
»Und ob ich kann. Siehst du doch.«
»Anarchistin!«
»Erbsenzähler!«
In diesem Moment kehrte der Alte zurück.
Blitzschnell ließ Mara das Büchlein hinter dem Rücken verschwinden, wo sie es in den Hosenbund stopfte und ihr T-Shirt darüberzerrte. Der Alte musste etwas mitbekommen haben, doch bevor er Gelegenheit fand, intensiver darüber nachzudenken, drückte sie ihm eine Visitenkarte in die Hand, die sie, ohne hinzusehen, aus ihrem Portemonnaie fischte. Es war die Karte ihrer Gynäkologin.
»Rufen Sie mich einfach an, wenn Sie herausgefunden haben, wer mit dem Wagen unterwegs war und wie hoch der Schaden ist. Meine Telefonnummer steht hier drauf. Ich gebe die Daten dann an meine Versicherung weiter. Schönen Tag noch.«
Sie wandte sich ab und eilte nach draußen, den Alten stirnrunzelnd zurücklassend. Lohmann machte indessen keine Anstalten, ihr zu folgen. Er stand kurz davor, sie auffliegen zu lassen.
»Kommst du, Schatz?«, rief sie ihm zu.
Endlich setzte er sich in Bewegung.
»Da rüber«, befahl sie. »Dort kann uns der Typ nicht sehen. Wir wollen ihm keinen Anlass geben, sich noch mehr Gedanken über uns zu machen, als er das eh schon getan hat. Aus den Augen, aus dem Sinn.«
Er gehorchte, und sie gingen hinter einem Lieferwagen in Deckung. Das Fahrzeug war ein weißer Mercedes Sprinter, so wie die meisten Wagen des Smertin-Fuhrparks. Er stand mit offenen Hecktüren vor einem Seiteneingang, und zwei junge Burschen waren gerade damit beschäftigt, Styroporkisten auszuladen und ins Gebäude zu tragen. Sie musterten die Fremden verstohlen, doch als Mara ihnen lächelnd und wie selbstverständlich zuwinkte, erwiderten sie den Gruß und setzten ihre Arbeit fort, ohne sich weiter um sie und Lohmann zu kümmern.
»Jetzt zu dir!« Sie traktierte ihn mit einem Blick voller Gift und Galle. »Hast du eigentlich noch alle Tassen im Schrank?« Das war keine ernst gemeinte Frage, sondern ein Rüffel.
Dennoch wollte der Referendar etwas erwidern, aber eine gebieterische Geste ließ ihn zögern.
»Tu so was nie wieder«, flüsterte sie, »oder du wirst es bereuen. Klar?«
Er hielt ihrem Blick stand, mühsam, aber er wollte sich nicht von ihr maßregeln lassen, schon gar nicht, da er sich im Recht fühlte.
»Ob das klar ist, habe ich gefragt?« Ihre grünen Augen loderten.
Er betrachtete seine Schuhspitzen und gab ein Brummen von sich, das man als »Schon gut, ich habe begriffen« interpretieren konnte. Dann, um möglichst schnell von seiner Niederlage abzulenken, brachte er etwas anderes zur Sprache: »Haben Sie auch dieses Poltern gehört? Und was halten Sie von den Typen? Die waren doch nicht ganz geheuer, oder? Die haben
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