Sturmsommer
rumhänge, muss ich ins Bett. Sonst gibt es echt Ärger.
»Viel Spaß«, sagt sie und zerzaust mir noch mal die Haare.
Ich beiße ihr in die Wange und haue ab, bevor sie mir eine überziehen kann. Angeblich hab ich Lissi schon gerne gebissen, als ich noch kaum Zähne hatte.
»Tom!?«, höre ich von unten Mama rufen. Okay, okay. Ist ja gut. Ich kicke die Tasche vom Bett, ziehe mich aus und kuschle mich unter die Decke. Vielleicht habe ich Glück und träume heute Nacht ausnahmsweise von schönen Dingen.
Es hagelt. Es hagelt gewaltig. Dicke Eiskugeln krachen vom Himmel auf uns und unsere Pferde herunter, der ganze Boden ist bedeckt davon und sie tun weh auf meinem Kopf, dazu dieses Geräusch, wenn sie auf meinem Helm aufprallen, immer und immer wieder, dieses laute Krachen …
Jetzt bin ich wach. Es ist still. Bis auf das Zwitschern der Vögel. Draußen wird es langsam hell. Was war das nur für ein Traum? Es regnet nicht einmal. Ich reibe mir verschlafen die Augen. Da! Da ist es wieder, an meinem Fenster, ein Geräusch wie Hagel!
Ich springe aus dem Bett und schaue raus. Unten auf dem Gartenweg tigert eine dünne Gestalt unruhig auf und ab und sammelt Steinchen. Jetzt registriert sie mich und blickt hoch.
»Hey! Sssst«, zischt sie. Toni. Das kann nur Toni sein.
»Bist du total bescheuert?«, zische ich zurück und mache ihm ein Zeichen, dass er hinter dem Haus warten soll. Ich gucke auf die Uhr. Es ist zehn nach fünf. Der hat ja nicht mehr alle Tassen im Schrank.
Ich schlüpfe in meine Klamotten von gestern, Jeans und T-Shirt, meine Reitsachen kann ich später immer noch anziehen. Muss erst mal diesen Verrückten da draußen zur Vernunft bringen.
Zusammen mit Henri tapse ich so leise wie möglich die Treppe hinunter und öffne vorsichtig die Hintertür. Toni sitzt auf unserer Terrasse, als wäre er hier zur Welt gekommen. Er ist blass um die Nase und sein Haarstyling ist gründlich danebengegangen.
»Es ist zehn nach fünf«, sage ich streng und muss gähnen. In meinem Bauch rumpelt es. Das Reisefieber. Kaum bin ich wach, hat es mich schon wieder.
»Ich kann nicht schlafen«, jammert Toni. »Mach irgendwas. Ich bin so nervös. Und vorhin auf dem Klo …«
»Toni, ich will’s nicht wissen«, unterbreche ich ihn rechtzeitig, bevor ich mir wieder eine seiner Durchfallgeschichten anhören muss. Wie meistens vor Klassenarbeiten oder Schulfreizeiten oder anderen wichtigen Terminen. Was mache ich jetzt mit ihm? Alleine lassen kann ich ihn nicht. Und wie ich sehe, hat er auch seine Tasche schon mitgenommen.
»Wissen deine Eltern, wo du bist?«, frage ich.
»Klar«, wispert er und beginnt wieder, auf und ab zu laufen. Zwischendurch hält er kurz inne und legt mit gequältem Blick die Hand auf seinen Bauch.
»Mir ist auch flau«, sage ich. Normalerweise hilft es da immer, aufs Pferd zu steigen oder zu rennen. Oder mich sonst irgendwie zu bewegen.
»Hey - ich hab eine Idee! Nimm Lissis Rad!« Ich gehe noch mal ins Haus und schreibe Mama und Papa einen Zettel. Macht euch keine Sorgen, bin mit Toni und Henri am See und rechtzeitig zurück. Er konnte nicht mehr schlafen. Tom. Ich lege ihn vor ihre Schlafzimmertür und schleiche die Stufen runter. Henri klebt an mir wie eine Klette. Vermutlich seine Auswanderungsangst. Und heute fahre ich tatsächlich weg. Armer Hund.
Toni zappelt draußen schon auf Lissis Rad herum. »Wir gehen schwimmen«, sage ich.
»Aber ich hab doch gar keine …«
»Jetzt komm schon!«, herrsche ich ihn an und fahre vor.
Im Osten geht gerade die Sonne auf, in einem milden Orange. Die Strahlen wärmen bereits, aber die Luft ist noch kühl und frisch, so frisch, als könnte man sie trinken. Es ist fast niemand unterwegs. Keine Autos, keine Busse, nur wir und der Hund, dessen Hecheln sich mit dem Zwitschern der Vögel vermischt. Zu unserer Lieblingsbucht braucht man nur 15 Minuten, doch Toni und ich sind heute schneller, weil die Ampeln noch abgeschaltet sind.
Der Sand ist feucht unter unseren Füßen, als wir vom Rad steigen und unsere Schuhe und Klamotten ausziehen.
»Und du meinst wirklich …?«, fragt Toni und wird rot. Der stellt sich immer an. Als ob es das erste Mal wäre, dass wir nackt in den See springen. Das haben wir früher andauernd gemacht.
»Ich kann dich auch in Klamotten reinschmeißen«, drohe ich und teste mit dem Zeh das so still daliegende Wasser. Hinten bei der Dampferlinie zerteilt die Sonne gerade ein paar Nebelschwaden. Eine Entenfamilie zieht vorbei, schnell
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