Sturmsommer
beobachtet. Aber du warst die ganze Zeit so daneben, dass du nichts bemerkt hast. Wir dich aber schon, glaub mir.« Er grinst immer noch. »Also, ich bin Freddie, eigentlich Frederik.« Er deutet auf sein eingegipstes Bein. »Meniskusoperation. Wie du heißt, wissen wir schon. Und der Penner da drüben ist Filippo. Italiener. Ein Blinddarm weniger in Westeuropa. Er leidet Höllenqualen - angeblich.«
»Aha. Und wie lange bin ich schon hier?«
»Drei Tage, glaube ich.«
O wei. Drei Tage und nichts mitbekommen. Das ist schon fast peinlich. Ich weiß nichts mehr.
Ich schaue mir Freddie genauer an. Groß, schlank, rotblonder Bürstenhaarschnitt und übersät mit Sommersprossen. Da werden meine neidisch. Filippo ist klein und kräftig und hat feste schwarze Locken. Mehr als seine Wade und sein dunkler Schopf sind momentan auch nicht zu sehen.
Plötzlich stellt sich ein heftiges Gefühl in meinem Bauch ein - Hunger. Und wie. Aber ich hänge immer noch am Tropf. Am liebsten würde ich mir das Ding rausreißen. Langsam werde ich wieder müde, trotz Magenknurren. Ich glaube, ich schlafe noch eine Runde. Mir fallen die Augen zu.
Eben gab’s Abendessen. Mit Tropf im Arm, aber morgen kommt er weg. Haben sie versprochen. Noch lieber aber wäre es mir, sie würden diese hässlichen rosa Stützstrümpfe wegmachen, die ich tragen muss. Das ist ja eine Zumutung, die Dinger. Ich bin vor Schreck fast umgefallen, als ich vorhin aufs Klo gegangen bin und sie an meinen Beinen entdeckt habe (wie bin ich eigentlich vorher aufs Klo gegangen? Ich glaube nicht, dass ich das wissen möchte). Aber Filippo trägt sie auch und meinte: »Da musst du durch, Bruder.«
Ihm ist nur wichtig, dass er seine Beine unter der Decke hat, wenn Lissi zu Besuch kommt. Denn die beiden haben sich in meine Schwester verschossen. Beide finden, dass sie so gut aussieht. Okay, das stimmt, ist ja auch meine Schwester. Sie sieht aus wie ein Engel, finde ich. Sie wäre natürlich lieber größer und schlanker und weiß der Henker was. Aber Lissi ist ein Rauscheengel.
Ich hab den beiden nicht gesagt, dass Lissi einen festen Freund hat. Es ist doch wirklich verrückt: Filippo ist so alt wie ich und Freddie gerade mal 16. Da verlieben die sich in eine 18-Jährige.
Manchmal würde es mich schon interessieren, wie sich das so anfühlt. Verliebt zu sein. Würde ich mich dann auch so albern verhalten?
Ich und verliebt? Kann ich mir nicht vorstellen. Und laut Klanke ist das ja nicht mein Thema. Klanke, Schule, die Mathearbeit - ob meine Eltern noch sauer auf mich sind?
Filippo reißt mich aus meinen Gedanken. »Warst du mal in Italien? Hm?« Wir waren bisher nur in Spanien und Frankreich, aber dieses Jahr soll’s nach Sizilien gehen. Ich erzähle es ihm. Er ist begeistert. Während Freddie draußen auf dem Gang Krückenlauftraining macht, berichtet mir Fil schwärmerisch von seiner Heimat. Scheint ja bombig dort zu sein. Vom Eis bis hin zu den Mädchen.
Freddie kommt hereingehumpelt, begrüßt Fil mit einem freundlichen »Na, palaverst du wieder?« und verschwindet ins Bad, um danach mit einem Spiegel zwischen den Zähnen wieder herauszuhüpfen. »Hast du dich eigentlich schon mal richtig angeschaut, Tom? Ich meine, dein Gesicht?« Nein, hab ich nicht. Als ich aufs Klo gegangen bin, wurde mir wieder ein bisschen schwindlig. Da hatte ich anderes im Sinn, als mein Aussehen zu begutachten. Ich schüttle den Kopf. Freddie reicht mir schmunzelnd den Spiegel. »Hier. Interessiert dich bestimmt.«
Ich kriege einen ordentlichen Schreck, während Freddie ununterbrochen in sich hineingrinst. Meine Sommersprossen sind verblasst oder haben sich aufgelöst, meine Haut ist wie aus Wachs. Bleich und ungesund.
An der Stirn prangt eine mit mehreren Stichen genähte Wunde. Dunkel verkrustetes Blut klebt an den Fäden. Um die Naht herum schillert die Haut in den verschiedensten Blau-und Grüntönen. Aber weh tut die Verletzung eigentlich kaum mehr.
Ich lege den Spiegel schnell auf den Nachttisch. Ich sehe ja aus wie ein Gespenst.
Gerade eben hat die Kirchturmuhr zehn geschlagen. Filippo schnarcht und Freddie ist gerade sein Buch aus der Hand gefallen. Ich schleiche rüber, hebe das Buch auf und knipse seine Nachttischlampe aus. Ich selbst darf noch nicht lesen. Strengt mich zu sehr an.
Vorhin hat Freddie von Zuhause erzählt. Seine Eltern sind geschieden, und er lebt bei seinem Papa, nicht bei seiner Mutter. »Ist besser so«, sagte er. Warum es besser ist, das habe ich mich
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