Sturmtief
Lüder stellte seinen BMW ab und ging ein paar Schritte zurück.
Er musste einen Moment warten, bis ihm ein
Mittfünfziger mit lichtem Haupthaar öffnete und ihn fragend ansah.
Lüder stellte sich vor und legitimierte sich durch
seinen Dienstausweis.
»Frau Hannah Eisenberg wohnt bei Ihnen«, sagte er.
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Der
Mann nahm seine Hornbrille ab, fasste sie am Bügel und schwenkte die Sehhilfe
hin und her.
»Ja. Wir vermieten ein Ferienappartement. Ist was
nicht in Ordnung?«
»Frau Eisenberg ist nicht zu Hause?«
»Nein.«
»Ich möchte mir gern die Wohnung ansehen«, sagte Lüder
mit Bestimmtheit.
»Ja, aber«, erwiderte der Mann zögerlich, öffnete dann
aber die Haustür ganz und bat Lüder herein. »Moment«, sagte er, verschwand
durch eine abschließbare Tür in sein privates Reich und kehrte kurz darauf mit
einem Schlüssel zurück. »Wir müssen nach oben«, erklärte der Vermieter und ging
die Steintreppe voran, auf deren Stufen bei jeder Biegung ein Topf mit
Zimmerpflanzen darbte.
Die Wohnungseinrichtung entsprach dem Klischee, das
von Ferienwohnungen gepflegt wurde. Die Küchenzeile war Bestandteil des
Wohnbereichs, der wiederum von einem großen Essplatz bestimmt wurde. Es gab
noch zwei Schlafräume. Der eine schien unbenutzt, in dem zweiten hatte sich
Hannah Eisenberg häuslich eingerichtet. Lüder untersuchte flüchtig den
Kleiderschrank. Er fand nichts, was nicht zu einer alleinstehenden Frau gepasst
hätte. Das galt auch für den Wohnbereich. Nichts deutete darauf hin, dass die
Frau gelegentlich Herrenbesuch empfangen hatte, kein Hinweis im Bad, kein
vergessenes Kleidungsstück, nicht einmal der Inhalt des Kühlschranks verriet
einen Besucher.
»Merkwürdig«, murmelte Lüder halblaut vor sich hin und
weckte damit das Interesse des Vermieters, der sein Tun aufmerksam beobachtete.
»Bitte?«, fragte der Mann.
»Ist Ihnen jemals Besuch aufgefallen, den Frau
Eisenberg empfangen hat?«
Der Vermieter schüttelte den Kopf. »Nein. Das haben
wir nie mitbekommen. Wir haben uns schon gewundert, meine Frau und ich, dass
Frau Eisenberg immer allein herumlief. Da war nie jemand. Auch Post hat sie
keine erhalten.«
Lüder hatte nach Papieren, Aufzeichnungen oder
Datenträgern gesucht. Aber alle Bemühungen waren vergeblich gewesen. Lediglich
ein Notebook konnte er sicherstellen. Er unterzog sich nicht der Mühe, den
Computer zu starten. Das würde er den Spezialisten überlassen.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Lüder den Vermieter
und zeigte auf ein Bild, das auf einer Anrichte stand.
Der Mann schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Die Frau
lebte sehr zurückgezogen. Wir hatten keinen Kontakt zu ihr. Nur ›Guten Tag‹ und
›Guten Weg‹. Das war alles. Wir haben nie ein persönliches Wort gewechselt.«
Dann besann er sich, setzte die Brille auf und beugte sich über die Fotografie,
auf die Lüder gewiesen hatte. Aufmerksam studierte er die Frau, die eine
Sonnenbrille in die Haare geschoben hatte, sommerlich leicht bekleidet war und
vergnügt lachte. Sie hielt einen vielleicht achtjährigen Jungen mit dunklen
Haaren im Arm, der sich an sie kuschelte.
Der Vermieter tippte auf das Bild. »Das ist Frau
Eisenberg.«
»Und das Kind?«
»Keine Ahnung. Hier war es nie zu Gast. Und – wie
gesagt – wir haben nicht miteinander gesprochen.«
»Wie hat Frau Eisenberg die Miete bezahlt?«
Der Mann tat, als hätte er die Frage überhört. Lüder wiederholte
sie.
»Nun, ja … ähm«, druckste er herum. »Das war in bar.«
»Und Sie haben keine Quittungen ausgestellt?«
Der Vermieter machte einen verlegenen Eindruck. Der
Mann fühlte sich ertappt, weil er einen kleinen steuerfreien Nebenverdienst
eingeheimst hatte. Doch Lüder jagte keine Steuersünder.
»War Frau Eisenberg oft unterwegs?«
»Sehr unterschiedlich. Da gab es keinen Rhythmus. Mal
war sie nur Stunden abwesend, dann ist sie über Nacht weggeblieben.«
»Und was hat sie gemacht?«
Lüder erntete als Antwort ein Schulterzucken.
»Was wollte Frau Eisenberg in Deutschland?«
»Das hat sie nie gesagt.«
»Und Sie haben nicht danach gefragt?«
»Wir sind doch nicht neugierig«, erwiderte der
Vermieter, als Lüder ihn ansah. Schnell wandte er seinen Blick ab, weil er sich
ertappt fühlte.
Lüder nahm eine Nikon D 700 zur Hand, die in
einem Regal lag, und betrachtete das schwarze Gehäuse der professionellen
Digitalkamera. Dann schaltete er das Gerät an, und nach einigen
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