Sturmwelten 03. Jenseits der Drachenküste
hochaufgerichteten, hageren Mann, aus dessen Leib die Vigoris strömte wie ein lebendiger Wasserfall. Sein schlohweißes Haar verriet ihr, dass er bereits alt sein musste. Als sie sein Gesicht betrachtete, zuckte sein Blick zu ihr.
»Du!«
Manoel schien den alten Maestre nicht bemerkt zu haben. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie er ein Stück höher flog und versuchte, zwischen die Schiffe zu blicken. Sinao hingegen blieb, wo sie war, und starrte wie gebannt in das Gesicht des Alten. Zuerst hatte es streng und abweisend gewirkt, doch jetzt wurden die Züge weich, und Güte zeigte sich in seiner Miene.
»Komm zu mir, mein Kind. Komm zu mir. Ich brauche dich. Wie gut von dir, hierherzukommen. Komm!«
Fast wäre Sinao dem Befehl gefolgt, wäre zu dem freundlichen alten Mann hinübergeschwebt, doch im letzten Moment hielt sie inne. Sie sah die Fäden der Vigoris, die sich um sie legten, sanft und leicht, wie Spinnweben. Plötzlich war
sie voller Angst, und sie schrie laut auf. Die Pforte in ihrem Herzen öffnete sich, und rohe Macht strömte durch sie hindurch, zerfetzte den Zauber, der sie umgab, und befreite sie.
Rasend schnell kehrte Manoel zu ihr zurück. Ob er den Alten sah oder nur die Vigoris, konnte Sinao nicht erkennen, aber sie sah deutlich die Furcht in seinem Gesicht, als er rief: »Los, weg hier!«
THYRANE
»Das ist übles Mojo. Mächtig übles Mojo«, erklärte Manoel und rieb sich über den Nasenrücken.
Thyrane sah Sinao auffordernd an, da er die Beschreibung des jungen Maestre für ziemlich lückenhaft hielt, aber sie nickte lediglich und bestätigte somit Manoels Worte.
»Müssen wir davon ausgehen, dass man uns feindlich gesonnen ist?«, fragte der Admiral dann.
Die Paranao zuckte mit den Schultern. Die anwesenden Offiziere starrten die beiden Maestre an, und selbst Manoel, der sonst schnell seine rebellische Ader zeigte, schwieg unter den vielen skeptischen Blicken.
»Vielleicht sollten einige unserer Bordmaestre noch einmal nach dem Rechten sehen?«, schlug Bercons vor. »Nur zur Sicherheit, selbstverständlich.«
Es gab zustimmendes Gemurmel.
Thyrane sah, wie Manoel den Mund öffnete, und er war sich sicher, dass die Worte des jungen Mannes keinesfalls diplomatisch sein würden.
»Ich denke nicht«, erklärte der Admiral also hastig. »Ich vertraue dem Bericht. Wir sollten zudem kein Risiko eingehen; wenn es zum Austausch von Feindseligkeiten kommen sollte, werden wir jeden Maestre benötigen, den wir haben.«
Bercons nickte, und Manoel biss sich auf die Unterlippe.
»Gibt es sonst noch etwas?«
»Ich denk’ nicht«, antwortete der junge Maestre. »Aber sie sollten den Leuten sagen, dass sie wirklich vorsichtig sein sollen. Übles Mojo, ja?«
Thyrane nickte und wandte sich wieder an die Offiziere. »Sie haben die Worte des Maestre gehört. Kehren Sie bitte auf Ihre Schiffe zurück, und bereiten Sie alles vor. Volle Gefechtsbereitschaft, aber Kanonen noch nicht ausfahren.« Er sah einen nach dem anderen an und lächelte schließlich in die Runde. »Noch habe ich die Hoffnung, die ganze Angelegenheit friedlich lösen zu können, nicht aufgegeben. Befolgen Sie Ihre Befehle, stehen Sie tapfer im Angesicht des Feuers des Feindes, und kämpfen Sie ehrenvoll … aber nicht zu ehrenvoll.« Leises Lachen quittierte seine Worte. »Beten Sie, dass all unsere Pläne nicht gebraucht werden. Und denken Sie daran: Kein Offizier macht etwas wirklich falsch, wenn er sein Schiff längsseits zu einem Feind bringt. Weggetreten.«
Die Offiziere verließen die Kajüte, verabschiedeten sich untereinander, wünschten sich Glück. Die Stimmung war angesichts der Lage nicht schlecht, und Thyrane hatte schon deutlich nervösere Mannschaften befehligt. Die Schiffe der Handelscompagnie waren größer und schlagkräftiger als seine eigene kleine Flotte, aber es war allen bewusst, dass sie von unerfahrenen Kämpfern kommandiert und gesegelt wurden. Die Besatzungen waren nicht an Krieg, Kampf und Tod gewöhnt, und ihre Ausbildung war naturgemäß schlechter als die der Königlichen Marine. Und am Ende des Tages ist ein Schiff immer nur so gut wie seine Besatzung, dachte Thyrane an ein altes Sprichwort. Wie die Géronaee zu ihrem Leidwesen so oft feststellen mussten.
»Admiral?« Als alle anderen außer ihr, Manoel und Thyrane verschwunden waren, trat Sinao vor und berührte ihn am Arm.
Thyrane sah die Paranao an. »Ja?«
»Der alte Mann, von dem wir erzählt haben. Also der Maestre. Er hat nach mir
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