Sturmwind der Liebe
große Angst sprach, daß er einen Magenkrampf bekam. Dann waren es wieder nicht Gennys Augen, sondern die einer anderen, einer Fremden.
Alec erwachte. Er hatte wirklich Magenkrämpfe.
Irgend etwas wird ihr zustoßen, dachte er, ich weiß es. Nie zuvor war er sich so hilflos vorgekommen. Ausgenommen an jenem Tag, als Nesta lange Zeit laut geschrien hatte, bis sie schließlich gestorben war … Und er hatte keine Hand gerührt, weil er nicht wußte, wie ihr zu helfen war.
Alec wälzte sich aus der Koje und zündete die Lampe an. Dann blickte er zum Heckfenster hinaus. Es regnete jetzt stärker. Das Wasser kam in dichten Fluten herunter. Trotzdem bestand noch kein Grund zur Besorgnis. Er schlüpfte in die Stiefel, zog sich das Ölzeug an und ging aufs Achterdeck.
Alles machte einen ordentlichen Eindruck.
»Guten Abend, Käpt’n«, sagte Ticknor, der Wache hatte.
Alec nickte. Dieser verfluchte Traum! Er war gespenstisch gewesen. Was zum Teufel sollte er tun?
Wo war sie?
Genny sah, wie die Wellen immer höher wuchsen. Wenn der Sturm anhielt und stärker wurde, würden sie über das Deck schlagen. Das könnte unangenehm werden. Andererseits bedeutete es noch nicht das Ende der Welt. Der Himmel war plötzlich sehr dunkel geworden. Da ahnte sie tief im Inneren, daß aus der Karibik ein Hurrikan im Anzug war. Sie roch, sie spürte es in der Luft. »Wir müssen was unternehmen, Snugger.«
Snugger wollte ihr eigentlich sagen, daß im Spätherbst immer mit Weststürmen zu rechnen war. Daß sie einen Sturm überleben könnten, auch wenn sie sich in seinem Zentrum befanden. Der Sturm kam und ging. Doch ehe er etwas sagen konnte, erteilte Genny ihm ihre Befehle, und er brüllte sie der Mannschaft zu.
Zu Daniels, der am Ruder stand, sagte sie: »Etwas steuerbord! Ja, so ist’s gut. Halten Sie sie so hart am Wind, wie Sie können!«
»Aye, aye, Käpt’n.«
»Snugger, sagen Sie ihnen, sie sollen die Vormarssegel einbringen! Lassen Sie das Großmarssegel – nein, warten Sie! Daniels, schnell, fallen Sie ab!«
Daniels fiel vom Kurs ab, und das Rad wirbelte in seinen großen Händen herum.
Genny wurde zur Seite geschleudert, fiel hart und schlug mit der Hüfte gegen den Großmast.
»Alles in Ordnung?«
»Ja. Und nun hören Sie, und keine Widerrede! Dies ist ein Hurrikan. Wir fahren zum Pamlico-Sund, zur Ocracoke-Insel. Sie wissen ja, da ist die beste Einfahrt in den Sund. Dort können wir den Hurrikan ausreifen und sind in Sicherheit.« Sie blieb noch einen Augenblick stehen und sah, wie die ersten Wellen aufs Deck krachten. Der Sturm peitschte ihr die Haare ins Gesicht, geißelte ihre Wangen und wehte ihr einzelne Strähnen zwischen die Zähne. Schließlich packte sie die dichte Haarmasse und band sie zu einem Knoten zusammen. Dann merkte sie, daß sie kein Haarband hatte. Ohne ein Wort reichte ihr Snugger einen dünnen Lederstreifen. Es gelang ihr, sich das Haar damit festzubinden, und sie sagte: »Rufen Sie den Männern zu, sie sollen vorsichtig sein! Sagen Sie ihnen, daß es ein Hurrikan ist!«
Snugger tat wie geheißen. Danach räusperte er sich und sagte: »Der Sund ist ziemlich flach und tückisch.«
»Das weiß ich. Wir segeln um die Diamond-Klippen herum in die Einfahrt und dann nach Ocracoke. Das wird drei, vier Stunden dauern, je nachdem wie der Wind zunimmt.«
Snugger seufzte. »Das wird teuflisch gefährlich.«
»Immer noch besser, als hier draußen auf dem Atlantik zu ersaufen. Der Hurrikan würde uns die Masten in drei Stücke zerlegen. Die Wellen würden über uns hinwegrauschen, und in wenigen Minuten wären wir untergegangen. Beten Sie, daß wir noch rechtzeitig Hatteras erreichen!«
»Wir steuern am besten genau darauf zu«, sagte er und schrie Daniels zu, nach steuerbord zu drehen. Er mußte schreien, obwohl Daniels kaum einen Meter weiter stand. Doch der heulende Wind verschluckte selbst Snuggers gewaltige Stimme.
»Ich will, daß die Schonerbark uns folgt. Kann mir nicht vorstellen, daß seine Lordschaft sich in diesem Teil der Welt gut auskennt. Er muß uns in die Einfahrt nachfahren.«
»Das macht er bestimmt«, sagte Snugger. »O’Shay steht ihm ja zur Seite.«
Genny sah Snugger aus großen Augen an. »Er hat O’Shay angeheuert?«
»Sie müssen doch zugeben, daß der Mann ein wahrer Zauberer ist, wenn es darum geht, in dieser Hemisphäre den geradesten und gleichzeitig sichersten Kurs zu segeln. Sicher, er kann von der Flasche nicht lassen – schließlich ist er Ire.
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