Sturmwolken am Horizont -: Roman (German Edition)
sich für die reichhaltige Pflanzenwelt auf seiner Erdkugel ausgedacht hatte. Vereinzelt duckten sich Häuser, Schuppen und Ställe zwischen ihnen und wirkten so klein wie die Miniaturausgaben einer Märklin-Modelleisenbahn. Am Horizont erahnte sie in einer gewaltigen grauen Fläche die Hauptstadt Frankreichs.
Neugierig beugte Demy sich über die seitliche Rundung des Korpus hinaus. Dabei rückte sie aus Philippes Windschatten, und eine kräftige Bö pflückte Haarsträhnen aus ihrem Zopf und brachte sie wie eine Fahne zum Flattern.
Demy kümmerte sich nicht darum. Zu angetan war sie von den blauen Bändern, die sich durch die malerische Landschaft schlängelten, von den glitzernden Seen und zwischen Hügeln eingebetteten Ortschaften. Meist waren es die Kirchtürme, die zuerst ihren Blick auf sich zogen, bevor sie einzelne Details der kleinen Städte und Dörfer ausmachen konnte. Ein Lächeln umspielte ihren Mund. Sie hatte ja nicht geahnt, wie wunderschön die Welt aus der Perspektive eines Vogels aussah!
»Ich fliege!«, flüsterte sie fast ehrfürchtig, aber tonlos vor sich hin.
Ein heiteres Lachen ließ sie den Blick von der bezaubernden Landschaft abwenden. Philippe hatte sich so weit umgewandt, wie es ihm in dem engen Gehäuse möglich war, und musterte sie hinter den runden Brillengläsern. Ob er von ihren Lippen hatte ablesen können, was sie gesagt hatte? In jedem Falle verrieten ihr interessierter Blick und ihr strahlendes Lächeln ihm ihre Begeisterung über das Fliegen.
»Ich bringe es Ihnen bei«, brüllte er gegen die Geräuschkulisse an.
Demy schüttelte den Kopf, doch die Bewegung fiel nur zögerlich aus, und Philippe beantwortete ihre nicht eindeutige Absage mit einem weiteren Auflachen.
»Sind das Kinder dort drüben auf der Wiese? Sie scheinen zu winken«, versuchte Demy seine Aufmerksamkeit von sich abzulenken.
Der Pilot drehte sich nach vorn. Während er das Flugzeug in eine eng gezogene Kurve legte, überkam Demy das unangenehme Gefühl, gleich aus der Maschine zu fallen. Krampfhaft klemmte sie die Beine unter eine Verstrebung und klammerte sich am Stahlrumpf fest.
Philippe ließ das Fluggerät sinken und donnerte in kaum zwanzig Metern Höhe über die Kinderschar hinweg. Die Jungen und Mädchen wirbelten herum und beschatteten ihre Augen mit den Händen, um dem Himmelsstürmer gegen die tief stehende Sonne nachzuschauen. Ein zweites Mal wendete Philippe. Diesmal flog er in größerer Distanz über die Wiese. Wieder begannen die Kinder mit beiden Händen zu winken und aufgeregt auf der Stelle zu hüpfen, so sehr freuten sie sich über den ungewohnten Anblick und wohl auch über den Piloten, der ihnen seine Aufmerksamkeit schenkte.
»Sehen sie mich, wenn ich ihnen zurückwinke?«, rief Demy ihm zu, so laut sie konnte.
»Ich übernehme das für Sie«, lautete Philippes Antwort, die vom Wind verweht nur bruchstückhaft bei ihr ankam. Bereits etwas weniger ängstlich ließ Demy es über sich ergehen, dass er die Maschine mehrmals abwechselnd leicht nach links und rechts kippte. Anhand des Flugzeugschattens auf dem unterhalb gelegenen Feld sah sie, dass die Bewegung für die Kinder tatsächlich so aussehen musste, als winke das Flugzeug ihnen zu.
Kapitel 4
Zwischen Paris und Straßburg, Frankreich,
August 1914
Philippes Eigenkonstruktion flog begleitet vom monotonen Motorengeräusch in Richtung Westen, der tief stehenden blutroten Sonne entgegen.
Demys anfangs vor Angst verkrampfte Muskulatur hatte sich mittlerweile entspannt, allerdings fror sie erbärmlich. Dennoch genoss sie die Aussicht und bewunderte das Farbenspiel des Himmels, der sich ihr prächtiger und unendlich weiter zeigte, als sie es von ihren Strandspaziergängen am Meer in Erinnerung hatte. Doch plötzlich wuchs ein dunkler Bergrücken vor ihnen in die Höhe. Innerhalb von Sekunden verschluckte der Höhenzug die Sonne und die sich nun rasant ausbreitende Dämmerung verwischte Konturen und Farben. Das Flugzeug vollführte eine sanfte Kurve, dann eine zweite in die Gegenrichtung, bevor es seine Schnauze dem Boden entgegensenkte. Holpernd und ruckend setzten die Räder auf einer Wiese auf und schließlich hielt es vor einer heruntergekommenen Scheune.
Der Motor erstarb. Das Fehlen seines penetranten Knatterns und des brausenden Windes in ihren Ohren empfand Demy als so eigenartig, dass sie reglos verharrte und auf die Stille horchte. Kaum zu glauben, dass sie in einem dieser neumodischen Flugzeuge wie die tollkühnen
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