Sturz Der Engel
sah, die unter dem grauen Kleid hervorschauten. Links im Gesicht hatte sie purpurne und grüne Prellungen. Eine weiße Linie vor dem linken Ohr zeugte von einer früheren Verletzung.
»Warum bist du gekommen?«
»Weil … weil … ich habe gehört, dass Ihr die Engelfrauen seid und Ihr hättet Fürst Nessil besiegt. Sogar die Magier des Fürsten Sillek fürchten Euch.« Hryessa schürzte die Lippen, als fürchtete sie, zu viel gesagt zu haben.
»In gewisser Weise entspricht das der Wahrheit«, antwortete Nylan. »Wir haben Fürst Nessil und einige Banditen besiegt.«
Die kleine Rothaarige zuckte zusammen und schluckte schwer, aber endlich erwiderte sie Nylans Blick, auch wenn ihre Stimme bebte, als sie weitersprach. »Man sagt, Ihr wärt ein Schwarzer Magier, der die Seelen der Menschen verschlingt und hinter die Steine Eures Turmes sperrt.«
»Oh, verdammt …«, flüsterte Rienadre unwillkürlich.
»Ich verschlinge keine Seelen. Und den Turm haben wir alle zusammen gebaut«, erklärte Nylan.
»Ihr seid zu bescheiden«, warf Narliat ein. »Der Magier hat den Turm möglich gemacht und er hat dazu ein Messer aus Feuer benutzt …«
Hryessa wich zurück, bis sie sich wieder mit dem Rücken gegen Rienadre presste.
Nylan hatte nicht übel Lust, Narliat einfach niederzuschlagen, nachdem der es ihm so schwer gemacht hatte, aber Rienadre schaltete sich ein, bevor Nylan sich entschieden hatte, wie er reagieren sollte.
»Immer mit der Ruhe, mein Kind«, sagte die Marineinfanteristin. »Der Ingenieur ist ein guter Mann.« Rienadre klopfte der jungen Frau, eigentlich noch ein Mädchen, beruhigend auf die Schulter und die kleine Rothaarige richtete sich auf, eher wegen des freundlichen Tonfalls als wegen der Worte, die sie nicht verstanden haben konnte.
»Er ist ein guter Magier«, erklärte Ayrlyn auf Alt-Anglorat. »Seine Werke haben vielen das Leben gerettet und sein Turm wird uns vor dem Winter schützen. Der Turm besteht nur aus Steinen und Balken und Metall, sonst nichts.«
Nylan versuchte, nicht zusammenzuzucken, als auch Ayrlyn ihn als Magier bezeichnete. Er war Ingenieur und noch dazu einer, der sich mit der primitiven Technik, wie sie hier üblich war, nicht gut auskannte. Mehr war er nicht. Allerdings … als er darüber nachdachte, begann sein Kopf zu pochen. War er etwa doch etwas mehr als bloß ein Ingenieur?
»Du wolltest also zu uns?«, fragte Ayrlyn weiter.
»Ich hatte … ich habe gehofft, große Herrin …« Sie starrte wieder den Lehmboden an. »Ich hatte gehofft, hier eine Bleibe für mich zu finden.«
»Es wird ein langer und kalter Winter werden«, warnte Ayrlyn sie.
»Das ist mir egal … ihr seid Frauen.« Ihre Augen glänzten feucht, aber sie weinte nicht, sondern richtete sich trotzig auf.
»Du musst nicht betteln oder dich erniedrigen«, sagte Nylan sanft. »Ayrlyn wollte dir nur erklären, dass der Winter auf dem Dach der Welt kein reines Vergnügen ist.«
»Ist er wirklich ein Mann?«, fragte Hryessa an Ayrlyn gewandt.
Nylan hätte beinahe unwirsch die Stirn gerunzelt.
»Ja«, antwortete Ayrlyn lächelnd, »er ist ein Mann, aber er ist wie wir alle auch ein Engel.«
Hufschläge unterbrachen die Unterhaltung. Ryba zügelte ihren großen Braunen an der Zufahrt und ließ zuerst Cessya absteigen, ehe sie selbst aus dem Sattel kletterte und der Soldatin die Zügel übergab. Die Marineinfanteristin führte das Pferd zum Geländer vor dem Turm.
Ryba kam herüber, blieb neben Nylan stehen und sah die kleine Rothaarige an. »Du bist also Hryessa«, sagte sie langsam, »und du bist gekommen, weil du Zuflucht suchst. Du bist willkommen.« Die Marschallin lächelte. »Alle, die sich wieder an uns wenden, sind willkommen.«
Nylan erschrak. Woher wusste Ryba den Namen der Frau?
Hryessa neigte den Kopf und kniete nieder. »Danke, Engel des Himmels.«
Ayrlyn und Nylan wechselten einen Blick und Nylan wurde bewusst, dass sie das Gleiche fühlten – es war ein Gefühl von Ehrfurcht, weil sie Zeugen eines Vorgangs wurden, der weit über den Augenblick hinaus Bedeutung haben sollte.
Nach kurzem Schweigen ergriff Ayrlyn das Wort. »Diese anderen hier – auch sie sind Engel.«
»Aber sie ist der Engel«, erwiderte Hryessa ruhig. »Ich habe es gesehen.« Sie verneigte sich noch einmal vor Ryba.
Ryba wandte sich mit einem Nicken an Ayrlyn. »Könntest du dich um sie kümmern? Sie soll sich waschen und frische Sachen bekommen. Außerdem musst du zusammen mit Fierral dafür sorgen, dass sie
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