Sturz Der Engel
hinauf, bis sie dicht vor den schwarzen Mauern standen.
»Anscheinend muss immer erst jemand sterben, ehe die Leute wach werden. Und manchmal reicht ein Toter nicht einmal aus«, erklärte Ryba. »Ich muss mich aufführen wie eine Diktatorin, damit die Leute einigermaßen bei Verstand bleiben.«
»Das gilt aber nicht für alle«, widersprach Nylan.
»Nein, der Dunkelheit sei Dank«, räumte Ryba seufzend ein. »Aber sie jammern, weil sie Balken sägen und Sägeblätter reinigen oder Ziegel brennen müssen. Oder etwa nicht?«
»Ja, manchmal.«
»Und was sagst du ihnen dann?«
»Ich frage sie, ob sie den nächsten Winter hinter einer dünnen Metallplatte verbringen wollen, während draußen der Schnee doppelt so hoch liegt, wie sie groß sind, und ob sie sich an gefrorenem Essen die Zähne ausbrechen wollen, falls sie überhaupt noch die Kraft haben zu essen.« Nylan hielt inne. »Es ist nicht schwer, ihnen zu erklären, dass der Turm gebaut werden muss. Sie sehen es ein. Aber es ist schwer, ihnen klar zu machen, dass sie jederzeit wachsam und auf einfach alles vorbereitet sein müssen.«
Ryba nickte. »Manchmal bin ich einfach nur noch müde.«
Nylan nahm sie in die Arme.
Sie sträubte sich einen Augenblick, dann entspannte sie sich. »Ich darf nicht vergessen, mir die Zuwendung zu nehmen, wo ich sie bekommen kann.«
»Mehr können wir nicht tun.«
Nach einer Weile lösten sie sich voneinander und kehrten langsam zu den Kochfeuern zurück, um ein spätes Abendessen einzunehmen. Über ihnen blinkten die kalten Sterne und schienen auf das Dach der Welt herab, jeder von ihnen so kalt wie das Eis, das Freyja bedeckte, kalt wie das jüngste Grab in der südwestlichen Ecke des Dachs der Welt, wo viel zu schnell viel zu viele neue Gräber entstanden waren.
XXVII
D ie niedrig hängenden grauen Wolken, die am Nachmittag einen längst überfälligen Regenschauer gebracht haben, ziehen eilig nach Osten in Richtung der mächtigen Westhörner. Sillek kniet im brusthohen, feuchten Gras und hält im Zwielicht Ausschau. Kaum tausend Ellen entfernt, auf der anderen Seite eines kleinen Einschnitts, liegen die Erdwälle der Schanzanlagen, die den Zugang zur Furt und damit nach Clynya schützen.
Hinter den Wällen stehen mehrere Zelte und einige Gebäude aus groben Balken mit Grassoden auf den Dächern. Es riecht nach feuchtem Gras, Erde und Rauch von Holzfeuern.
»Könnt Ihr die Gebäude in Brand stecken, Meister-Magier?«, fragt er Terek, der neben ihm kniet.
»Das Gras ist feucht, Ser.«
»Was ist mit den Gebäuden?«, zischt Sillek.
»Ja, Ser, aber ich müsste näher heran, viel näher. Sie haben das Gras vom Boden entfernt …«
»Verbrannt, würde ich sagen«, berichtigt Sillek ihn. »Ihr könnt im Dunkeln sehen, nicht wahr? Magier sind angeblich dazu in der Lage.«
»Im Dunkeln? Wir sollen es bei Dunkelheit tun?«
»Wie ich Koric schon sagte, habe ich nicht die Absicht, mich altmodischen Vorstellungen von Ehre und Moral zu unterwerfen, mein werter Meister-Magier. Dieser Bastard von Ildyrom hat nichts auf Ehre und althergebrachte Grenzen gegeben, als er das Weideland westlich von Clynya erobert und die Festung erbaut hat, um es zu halten. Verlangt die Ehre wirklich, dass ich nur mit meinen Bewaffneten gegen einen Haufen Bastarde vorgehe, um sie zu töten? Zur Hölle mit der Ehre. Ich habe die Absicht, das Weideland zurückzugewinnen, ohne meine Männer zu gefährden.«
Terek rutscht im hohen Gras unbehaglich auf den Knien hin und her. Es ist unangenehm, weil er im Gegensatz zu Sillek keine hohen Stiefel besitzt.
»Wenn es dunkel ist, wird Koric Euch und die beiden anderen Magier mit seinen besten Männern begleiten, so weit Ihr eben gehen müsst. Ich will, dass diese Festung dort niedergebrannt wird – bis auf die Grundmauern.«
»Aber die Soldaten da drüben werden fliehen.«
»Gewiss«, erwidert Sillek lächelnd. »Daran habe ich auch schon gedacht. Und jetzt lasst uns umkehren und die notwendigen Vorbereitungen treffen.« Er blickt zum dunkler werdenden westlichen Horizont, dann wieder zu den dünnen Rauchfahnen, die hinter den Erdwällen von den Holzhütten aufsteigen.
Terek schaudert, aber er folgt seinem Herrn und schleicht mit ihm durchs Gras zurück. Er hofft, die Wachtposten der Festung können nichts weiter sehen als Gras, das sich in der abendlichen Brise bewegt.
»… dieses heimliche Schleichen …«, murmelt Terek leise.
»Wollt Ihr lieber offen hinüber reiten und angreifen,
Weitere Kostenlose Bücher