Sturz der Titanen
jetzt!«, rief Mam.
Ethel blickte Billy an. Durch einen Tränenschleier sah sie sein Gesicht, auf dem sich ein Ausdruck ehrfürchtiger Bewunderung spiegelte. Schniefend wischte sie sich mit dem Handrücken die Augen ab. »Du und deine Gewerkschaft, deine Sicherheitsbestimmungen und deine Heilige Schrift«, sagte sie. »Ich weiß ja, wie wichtig das alles ist, aber du darfst darüber nicht vergessen, was die Menschen hier und jetzt empfinden. Mag ja sein, dass der Sozialismus der Arbeiterklasse irgendwann ein besseres Leben beschert, aber bis dahin brauchen die Leute Trost!«
Dah fand endlich seine Stimme wieder. »Ich glaube, wir haben jetzt genug von dir gehört«, sagte er. »Dir ist offenbar zu Kopf gestiegen, dass du mit dem König zu tun hast. Aber du bist nur ein junges Mädchen, und es steht dir nicht zu, Ältere zu belehren.«
Ethel weinte so herzzerreißend, dass sie die Diskussion nicht fortführen konnte. »Tut mir leid, Dah«, sagte sie schluchzend. »Ich gehe lieber wieder an die Arbeit.« Auch wenn der Earl ihr gestattet hatte, sich so viel Zeit für die Familie zu nehmen, wie sie wünschte – jetzt wollte Ethel nur noch allein sein. Sie kehrte ihrem Vater den Rücken zu und ging nach Ty Gwyn zurück, den Kopf gesenkt, damit niemand ihre Tränen sah.
In der Hoffnung, niemandem über den Weg zu laufen, schlich Ethel sich in die Gardeniensuite. Lady Maud war nach London zurückgekehrt; deshalb stand die Zimmerflucht leer, die Betten waren abgezogen.
Ethel warf sich bäuchlings auf die Matratze und weinte. Sie war so stolz gewesen! Wie konnte Dah alles in Zweifel ziehen, was sie getan hatte? Wollte er, dass sie schlechte Arbeit leistete? Sie arbeitete für den Adel, aber das taten auch die Bergarbeiter in Aberowen. Zwar wurden sie von Celtic Minerals beschäftigt, doch die Kohle, die sie abbauten, gehörte dem Earl, und der wurde genauso pro Tonne bezahlt wie jeder Bergmann – eine Tatsache, auf die hinzuweisen ihr Vater niemals müde wurde. Wenn es richtig war, als guter Bergmann gute Kohle zu machen, was sollte dann falsch daran sein, wenn sie eine gute Haushälterin sein wollte?
Ethel hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und sprang auf. Es war der Earl. »Was ist los, um alles in der Welt?«, fragte er freundlich. »Ich habe Sie bis draußen auf dem Flur gehört.«
»Tut mir leid, Mylord, ich hätte nicht hier reingehen sollen.«
»Schon gut, mein Kind.« In Fitz’ attraktivem Gesicht stand aufrichtige Besorgnis. »Warum weinen Sie denn?«
»Ich war so stolz, dass ich dem König helfen konnte«, antwortete Ethel traurig. »Aber mein Vater sagt, das alles wäre bloß ein billiges Schauspiel gewesen, damit die Leute nicht mehr auf Celtic Minerals wütend sind.« Wieder brach sie in Tränen aus.
»Was für ein Unsinn«, sagte der Earl. »Jeder konnte sehen, dass die Anteilnahme Seiner Majestät und seiner Gemahlin echt war.« Er zog das weiße Taschentuch aus der Brusttasche. Ethel erwartete, dass er es ihr reichte; stattdessen tupfte er ihr sanft die Tränen von den Wangen. »Jedenfalls war ich letzten Montag sehr stolz auf Sie, egal was Ihr Vater denkt.«
»Sie sind sehr freundlich …«
»Schon gut«, sagte Fitz, beugte sich vor und küsste sie auf den Mund.
Ethel war wie betäubt. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht damit. Als der Earl sich von ihr löste, starrte sie ihn fassungslos an.
Er schaute ihr in die Augen. »Ach, Ethel, du bist wunderschön«, sagte er und küsste sie noch einmal.
Diesmal schob sie ihn fort. »Mylord, was tun Sie?«, flüsterte sie entsetzt.
»Das weiß ich selbst nicht.«
»Und was denken Sie sich dabei?«
»Im Moment denke ich überhaupt nicht.«
Ethel schaute in sein attraktives Gesicht. Die grünen Augen musterten sie intensiv, als versuchte er, ihre Gedanken zu lesen. Mit einem Mal wurde Ethel klar, dass sie diesen Mann begehrte. Heftiges Verlangen überkam sie.
»Ich kann nicht anders«, sagte Fitz.
Ethel seufzte glücklich. »Dann küss mich noch mal.«
Kapitel 3
Februar 1914
Es war halb elf Uhr vormittags. Der Spiegel in der Halle von Earl Fitzherberts Stadthaus im noblen Londoner Stadtteil Mayfair zeigte einen hochgewachsenen Mann, tadellos gekleidet in die Tagesgarderobe eines Briten der Oberschicht. Seine silbergraue Krawatte wurde von einer Perlennadel gehalten, und er trug einen Stehkragen, da er die modischen weichen Krägen nicht mochte. Einige seiner Freunde hielten es für unter ihrer Würde, sich elegant zu kleiden.
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