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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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unsere eigenen Hände nehmen, so wie die Bolschewiken in Russland und die Sozialdemokraten in Deutschland es getan haben.« Die Männer jubelten. »Wir haben eine Arbeiterpartei, die Labour-Partei, und wir sind zahlreich genug, um unsere Abgeordneten an die Regierung zu bringen. Bei der letzten Wahl hat Lloyd George uns übertölpelt, aber noch einmal kommt er nicht damit durch.«
    Jemand rief: »Niemals!«
    »Jetzt wisst ihr, weshalb ich nach Hause gekommen bin. Perceval Jones’ Tage als Abgeordneter für Aberowen sind so gut wie gezählt.« Alles jubelte. »Ich möchte uns im Unterhaus von einem Labour-Mann vertreten sehen!« Billy begegnete dem Blick seines Vaters: Dahs Gesicht leuchtete. »Ich danke euch für eure wunderbare Begrüßung!« Billy stieg von dem Stuhl, und die Leute applaudierten begeistert.
    »Nette Ansprache, Billy«, sagte Tommy Griffiths. »Aber wer soll dieser Labour-Abgeordnete denn sein?«
    »Na hör mal, Tommy-Boy«, erwiderte Billy. »Dreimal darfst du raten.«

    Der Philosoph Bertrand Russell besuchte Russland in diesem Jahr und schrieb darüber ein dünnes Bändchen mit dem Titel »Die Praxis und Theorie des Bolschewismus«. In der Familie Leckwith führte die Lektüre dieses Werkes beinahe zur Scheidung.
    Russell ging in seinem Buch hart mit den Bolschewiken ins Gericht – zu allem Überfluss aber aus einer linken Perspektive. Anders als die konservativen Kritiker sprach er dem russischen Volk keineswegs das Recht ab, den Zaren zu entthronen, die Ländereien des Adels unter den Bauern zu verteilen und die Fabriken selbst zu leiten. Im Gegenteil, das alles hieß er gut. Russell griff die Bolschewiken nicht wegen falscher Ideale an, sondern weil sie die richtigen Ideale hätten, aber dabei versagten, nach diesen Idealen zu leben. Deshalb konnten seine Schlussfolgerungen nicht ohne Weiteres als rechte Propaganda abgetan werden.
    Bernie las das Buch als Erster. Er besaß die Abneigung eines jeden Bibliothekars, irgendetwas in Bücher hineinzuschreiben, doch in diesem Fall machte er eine Ausnahme und verunstaltete die Seiten mit wütenden Kommentaren, unterstrich Sätze und schrieb mit einem Bleistift »Blödsinn!« oder »Ungültiges Argument!« an die Seitenränder.
    Ethel las das Buch, während sie auf ihr zweites Kind aufpasste, das nun gut ein Jahr alt war, ein Mädchen namens Mildred, das aber nur »Millie« gerufen wurden. Die ältere Mildred war mit Billy nach Aberowen gezogen und ging bereits mit ihrem ersten gemeinsamen Kind schwanger. Ethel vermisste sie; zugleich war sie froh, die Zimmer im Obergeschoss wieder für sich zu haben. Klein-Millie hatte lockiges Haar und schon jetzt ein kokettes Augenzwinkern, das jeden an Ethel erinnerte.
    Ethel gefiel das Buch. Russell war ein geistreicher Schriftsteller. Mit aristokratischer Unbekümmertheit hatte er um ein Interview mit Lenin gebeten und eine Stunde mit dem großen Mann verbracht. Sie hatten Englisch gesprochen. Lenin sagte, sein bester Propagandist sei Lord Northcliffe: Die Gruselgeschichten über Russen, die den Adel ausplünderten, erklärte Lenin, ängstigten vielleicht die Bourgeoisie, aber auf den britischen Arbeiter hätten sie die gegenteilige Wirkung.
    In seinem Buch legte Russell jedoch dar, dass die Bolschewiken durch und durch undemokratisch waren. Die Diktatur des Proletariats sei eine echte Diktatur, schrieb er, nur dass ihre Diktatoren Intellektuelle aus der Mittelschicht seien, wie Lenin und Trotzki, die Proletarier nur dann gelten ließen, wenn sie die Ansichten der Bolschewiken teilten.
    »Ich finde das sehr beunruhigend«, sagte Ethel, als sie das Buch zur Seite legte.
    »Bertrand Russell ist Aristokrat!«, erwiderte Bernie wütend. »Er ist ein Earl!«
    »Deshalb hat er noch lange nicht unrecht.« Millie hörte auf zu saugen und schlief ein. Ethel strich ihr mit der Fingerspitze über die weiche Wange. »Russell ist Sozialist. Er prangert an, dass die Bolschewiken den Sozialismus nicht verwirklichen.«
    »Wie kann er so etwas behaupten? Der Adel wurde beseitigt.«
    »Die kritische Presse auch.«
    »Eine zeitweilige Notwendigkeit …«
    »Zeitweilig? Die russische Revolution steht im vierten Jahr!«
    »Man kann kein Omelette backen, ohne Eier aufzuschlagen.«
    »Er sagt, es gibt willkürliche Verhaftungen und Hinrichtungen, und die Geheimpolizei ist jetzt mächtiger als zu Zeiten des Zaren.«
    »Aber sie wendet sich gegen Konterrevolutionäre, nicht gegen Sozialisten.«
    »Sozialismus bedeutet Freiheit, auch

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