Sturz in den Tod (German Edition)
gewartet.
Das war eines der Reizthemen zwischen Alexander und seiner Mutter gewesen, als
Alexander sie das letzte Mal besucht hatte. Sie wollte das Boot nicht nur
behalten, sondern sagte mit einer Herablassung in der Stimme, die er an ihr
nicht kannte, sie habe damit etwas vor. Was, ginge ihn nichts an.
Er hielt das Gesicht in die Sonne. Eine Wolke schob sich davor.
Dieses letzte Treffen würde Alexander niemals vergessen.
Sein Handy klingelte. Dieser junge Anwalt, der ihn vorhin in der
Wohnung seiner Mutter überrascht hatte, teilte ihm mit, dass die Leiche seiner
Mutter von der Rechtsmedizin zur Bestattung freigegeben werde und dass die
Polizei den Fall jetzt zu den Akten lege, weil sie nun doch von Suizid ausging.
Deshalb war es denen also nicht wichtig erschienen, sofort wegen des beschädigten
Siegels an der Wohnungstür vorbeizukommen. Alexander bedankte sich für den
Anruf.
Eine Gruppe fröhlicher Spaziergänger ging an ihm vorbei bis ans Ende
der Mole. Alexander Bergmann sah ihnen nach und fühlte sich plötzlich allein.
Er hatte sich oft die Erleichterung vorgestellt, die er spüren würde, wenn er
sein Erbe antreten könnte. Doch nun empfand er nichts.
SECHS
Das Zimmer lag im Anbau eines
Einfamilienhauses aus den sechziger Jahren und war möbliert. Die Möbel waren so
braun wie der Teppich und vermutlich die ehemalige Einrichtung der Vermieter
gewesen, bis sie sich eine neue für ihr Eigenheim gegönnt hatten. Bei der
Besichtigung roch der Raum muffig, als hätte ihn lange niemand bewohnt. Auch
die Fliesen im Badezimmer waren braun, in den Fugen schwarze Stockflecken. In
der Kochnische roch es nach ranziger Butter. Dafür war die Miete sehr günstig.
Romy gab vor, länger bleiben zu wollen, weil sie überlege, sich in Ruhe an der
Ostsee ein neues Zuhause aufzubauen. Die Vermieter, ein älteres Ehepaar, fragten
nicht weiter nach, und Romy merkte ihnen die Freude darüber an, dass jemand
nach so langer Zeit ihr Feriendomizil mieten wollte. Sogar eine junge Frau aus
Berlin zog bei ihnen ein, also lag es doch nicht an ihrem Anbau, dass ihn kaum
noch jemand mietete oder während des Aufenthalts nicht zufrieden mit der
Ausstattung gewesen war.
Im Gegensatz zu Travemünde mutete Niendorf eher
wie ein Dorf an. Ein Dorf mit kleinem Fischereihafen, das kaum etwas Mondänes
bot. Romy war sich sicher, dass ihre Mutter sich nicht hierher verirren würde.
Sie durfte den Garten ihrer Vermieter
mitbenutzen, das Stückchen Wiese, auf dem an »ihrem« Anbau separate Gartenmöbel
mit braun geblümten, stockfleckigen Sitzauflagen standen. Romy nahm einen alten
Blumentopf, der an der Hausmauer lag, und stellte ihn als Aschenbecher auf den
Tisch. Sie schrubbte die Wohnung mit Putzmitteln, die sie im Edeka an der
Hauptstraße gekauft hatte, und packte ihre wenigen Sachen aus, die sie aus
Berlin mitgebracht hatte.
Romy wusste noch nicht, wie lange das Ganze hier
dauern würde. Sie hoffte, nicht allzu lange. Zur Not müsste sie in Niendorf in
einer Kneipe jobben, in die sich ihre Mutter ebenfalls nicht verirren würde.
Sie hatte noch keinen richtigen Plan, wie sie weiter vorgehen sollte, doch so wie
neulich würde sie sich keinesfalls noch einmal zurückweisen lassen.
»Wenn es da etwas gibt, das Sie angehen sollten,
dann sollten Sie es angehen«, hatte ihr der Arzt nach ihrem Schlaganfall
gesagt. Romy würde es angehen.
Noch am Tag ihres Einzuges in Niendorf
schrieb sie einen Brief an ihre Mutter, in dem sie sich für das erste Treffen
bedankte und um ein weiteres bat. Danach wartete sie auf den Anruf ihrer
Mutter. Er kam nicht.
Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, lief
Romy immer wieder die fünf Kilometer am Brodtener Ufer entlang nach Travemünde,
um in der Nähe des Maritim heimlich nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. Sie
beobachtete sie mehrmals, wie sie im Pool in einem blauen Badeanzug und
Rüschenbadekappe schwamm. Romy sah ihre Mutter, wie sie sich vom Pförtner der
Residenz eine Zeitung und eine kleine Brötchentüte aushändigen ließ. Romy
beobachtete ihre Mutter, als diese über die Brüstung ihres Balkons im
dreißigsten Stockwerk in die Ferne sah. Dass sie dabei manchmal nicht allein
war, das beobachtete Romy auch. Sie folgte ihrer Mutter, als sie ins Casino
ging, in ihrer Nähe wieder der junge Mann, mit dem sie offenbar verabredet war.
Oft beschloss Romy, ihrer Mutter
gegenüberzutreten und sie zu einem weiteren Gespräch zu zwingen. Sie tat es
nicht. Eines Tages begann sie, auch dem jungen
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