Suche nicht die Suende
heutzutage wünschten vermutlich zu heiraten, bevor sie zweiundzwanzig waren.
Herrje … Gwen richtete sich auf. Allein die Tatsache, dass sie nicht mitbekommen hatte, welche Taillenschnürung bei den gegenwärtigen Debütantinnen als Vorgabe für das Höchstalter zum Heiraten galt, war ein
sicheres
Zeichen dafür, dass sie längst oberhalb der zu akzeptierenden Grenze lag.
Oder dass ihre Taille zu viel Umfang hatte!
Himmel. Gwen legte die Hände auf die Hüften und drückte sie leicht. Ob sie in Unterkleidung noch annehmbar genug aussah? Windbeutel und Champagner forderten selbstverständlich ihren Tribut. Hätte sie doch nur ihr seegrünes Korsett mitgenommen! Es mochte zwar ein wenig zu lang für die jetzt aktuellen Kleider sein, aber es war vorzüglich gearbeitet und mit passenden Bändern und elfenbeinfarbener Spitze gesäumt. Hätte sie es hier,
das
würde sie tragen, wenn sie zu Alex Ramsey ins Abteil ging.
Sie schlug die Hand vor den Mund.
Grundgütiger Gott!
Sie dachte über ihre Unterwäsche nach, weil sie irgendwann im Laufe der Unterhaltung vorhin eine Entscheidung getroffen hatte: das »Pretty Housemaid« war für die Verführung, die sie für heute Nacht plante, nicht geeignet.
Sie konnte Alex sicher nicht für immer haben. Aber sie wollte ihn für heute.
10
Es brauchte eine weitere geschlagene Stunde und den Rest Cognac aus ihrem Glas, um genügend Mut zu sammeln. Dann, nachdem sie ihr weißes Baumwollnachthemd bis zu dem Punkt aufgeknöpft hatte, an dem der Ansatz ihres Busens begann, atmete sie tief durch und schlüpfte auf den Gang hinaus.
Er hatte das Abteil gleich neben ihrem, und seine Tür war nicht versperrt. Sie ließ sich lautlos öffnen und gab Gwen den unmittelbaren und direkten Blick auf sein Bett frei. Alex lag flach auf dem Rücken, ein Arm war über den Kopf gebeugt. Ein bekleideter Arm, wie es aussah.
Aus irgendeinem Grund hatte sich Gwen vorgestellt, er würde nackt sein.
Als klar wurde, dass ihn der laute Schlag ihres pochenden Herzens nicht aufwecken würde, schlich sie sich an das Bett. Wie fing man es an, einen Mann zu verführen? Weckte man ihn und teilte ihm die Absicht mit?
Ich bin gekommen, dich zu nehmen. Eine Weigerung werde ich nicht akzeptieren.
Diese Herangehensweise schien eine Menge abgefeimter Stärke zu erfordern. Und was wäre, wenn sie ihm zwar sagte, dass sie seine Weigerung nicht akzeptieren würde, er sie aber dennoch zurückwies? Allein schon aus dem Grund, ihr zu beweisen, dass sie sich irrte. Wenn sie etwas von Alex wusste, dann, dass er ein Mann war, der geradezu eifersüchtig über seine Vorrechte wachte.
Der einzige Stuhl im Abteil stand direkt vor dem Bett, und darauf lag ein Magazin – ein Wirtschaftsjournal, herrje, wie schrecklich – und, weitaus faszinierender, etwas, das funkelte. Sie beugte sich vor, kniff die Augen zusammen und stellte fest, dass dieses Funkeln von einer Brille mit Drahtfassung stammte.
Eine Brille! Sie schaute auf den schlafenden Alex, während sich ihre Lippen überrascht teilten. Sie brauchte auch eine Sehhilfe, um ohne Anstrengung zu lesen. Und – ebenso wie er – trug sie sie niemals in der Öffentlichkeit.
Wir sind also beide ein wenig eitel, dachte sie. Der Gedanke ließ sie lächeln. Es wurde zu so etwas wie einer Obsession, die kleinen Dinge zu entdecken, die sie gemeinsam haben könnten. Seine Loyalität der Familie gegenüber. Seine Liebe zu seinem Bruder. Seine Missachtung der Meinung von Dummköpfen und runzligen Snobs.
Er gab einen leisen Ton von sich, worauf sie erstarrte. Im Mondlicht sah sein Gesicht jungenhaft aus, fast unschuldig. Er würde sich morgen früh rasieren müssen. Gwen wünschte, sie würde sich trauen, den Bartschatten auf seinem Kinn zu berühren und ihn zu streicheln, einfach nur um des Vergnügens willen, das Raue unter ihren Fingerspitzen zu fühlen. Aber während sie die Hand ausstreckte, krümmten sich ihre Finger und gruben sich in ihre Handfläche. Eine abergläubische Überzeugung überkam sie: Wenn sie Alex auf die falsche Art weckte, würde alles schieflaufen. Märchen ließen diesen Punkt oft deutlich werden. Es gab nur eine einzige richtige Art, einen schlafenden Menschen zu wecken, wenn man wollte, dass er sich in einen verliebte.
Aber ich will nicht, dass er sich in mich verliebt
, erinnerte sie sich.
Ich bin nicht hier, weil ich von einer Zukunft mit ihm träume.
Wie würde eine Zukunft mit ihm überhaupt aussehen? Er hatte kein Interesse am Landleben, weder
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