Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Anmarsch!«
Ohne nachzudenken, lässt Peter eine der Landkarten in seinem Overall verschwinden und stürmt die Stufen hinauf.
96
Im Innenhof sind die Häftlinge im Quadrat aufgestellt. Die Sonne steht noch tief, aber es ist schon glutheiß. Peter unterdrückt ein Gähnen. Er war nachts lange wach, um im bleichen Licht der Nachtlampen die in die Karte eingezeichneten Wege und Straßen mit dem Finger nachzufahren und sich einzuprägen. Als er überzeugt war, das Wesentliche zu wissen, trennte er eine Naht an seiner Matratze auf und schob seinen Fund hinein. Danach lag er schlaflos im Bett, starrte an die Decke und dachte an den Mississippi.
Zwei Stunden vor Sonnenaufgang ertönte das Wecksignal. Die Häftlinge marschierten schweigend zur Dusche und schweigend zum Frühstück und starrten durch die großen Glasfenster in den erblassenden Himmel hinaus. Dann, nachdem sie eine gewissenhafte Inspektion über sich hatten ergehen lassen müssen, versammelten sie sich im Innenhof.
Peter blickt über die Felder, die das Anstaltsgelände beschließen, zum orange glühenden Horizont. Wendy trägt wie ihre Kolleginnen von der Blumentruppe ein langes weißes Kleid über dem Overall und hält einen riesigen Strauß in der Hand. Peter bildet sich sekundenlang ein, dass ihr Lächeln ihm gilt, muss aber einsehen, dass sämtliche Mädchen der Truppe genau gleich lächeln; anscheinend haben sie vor dem Spiegel in der Dusche geübt. Er dreht sich zu Howard um. Der hat sich zwar mit einer Nadel gestochen und ein paar Blutstropfen mit den Fingern auf seinen Wangen verrieben, doch geholfen hat es nicht viel – sein Kumpel ist aschgrau.
In der Ferne erscheint eine Staubwolke. Der näher kommende Wagen ist eine schwarze Limousine mit getönten Scheiben. Gleißend spiegelt sich die Sonne auf der Windschutzscheibe, als der Fahrer die letzte Biegung nimmt. Es ist so still, dass man den Kies unter den Reifen knirschen hört. Die Limousine biegt in den Hof ein und hält wenige Meter vor dem Quadrat der Häftlinge an. Das schwere Tor schließt sich. Eine Frau und ein Mann steigen aus. Er ist groß und mager, trägt einen anthrazitgrauen Anzug und hat sich den Schädel kahl rasiert. Sie ist mittelgroß, in geschäftsmäßigem Kostüm, und hat eine prall gefüllte Aktentasche bei sich. Der Mann sieht sich den rings um das Gelände laufenden Doppelzaun an. Die Wachhunde, die mit valiumhaltigen Fleischbällchen lahmgelegt wurden, versuchen matt ihre Zähne zu fletschen, aber es wird nur ein Gähnen daraus.
Auf ein Zeichen des Reverends hin tritt Profos Meier als Dirigent vor den Chor. Sie singen »Amazing Grace«. Alabama eröffnet mit den ersten Takten, und als die kristallklare Stimme ihr Vibrato erklingen lässt, schnürt es den Häftlingen das Herz zusammen. Dann fällt Syrius ein, der einen ergreifenden, melancholischen Bariton besitzt und Alabamas Gesang umhüllt wie ein Schleier, und endlich setzt auch der Chor ein und unterlegt den Wechselgesang der Solisten mit einem weichen Teppich. Einer, ein Rotschopf, der es besonders gut meint, wirft schmetternd den Kopf in den Nacken, gerät aber aus dem Takt, und Meier tastet schon nach dem Schlagstock an seinem Gürtel, bis ihm einfällt, dass er ihn, wie alle Profose, in der Waschküche abgelegt hat. Er wirft einen Blick zurück zum Reverend, doch der schüttelt kaum merklich den Kopf. Das Lied kommt zum Ende, die Stimmen verklingen, und alles ist wieder still. Wendy tritt vor und reicht dem Inspektor ihren Blumenstrauß. Der legt ihn auf dem Wagendach ab, tritt auf den Reverend zu und streckt ihm die Hand entgegen, doch der Reverend mustert sie nur voller Abscheu und ergreift sie nicht. Die Inspektorin nimmt ihre Sonnenbrille ab, hinter der schöne graue Augen zum Vorschein kommen.
»Kirsten Mitchell und Jasper Collins, vom Jugendamt.«
Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu: »Wird denn hier jeden Morgen gesungen?«
»Ja, das ist gut für die Stimme.«
Die Inspektorin setzt die Brille wieder auf.
»Wir hätten gern, dass Sie so tun, als wären wir nicht da. Wir werden vormittags die Jugendlichen bei verschiedenen Aktivitäten beobachten und nach dem Mittagessen Einblick in ihre Akten nehmen. Und bevor wir wieder abfahren, würden wir uns noch gern mit einigen Ihrer Schützlinge unterhalten.«
Die Lippen des Reverends werden schmal. Mit einer Handbewegung fordert er die Jugendlichen auf, an ihre Arbeiten zu gehen, und die Häftlinge ziehen gehorsam zu dem Gebäude mit den Werkstätten
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