Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
davon. Maschinen werden eingeschaltet. In großen Körben haben die Profose Lederriemen und Schnallen bereitgelegt, aus denen Gürtel hergestellt werden sollen. Die Inspektoren schlendern durch die Gänge und sehen zu, wie die jugendlichen Handwerker hingebungsvoll Löcher stanzen und mithilfe von Nieten, die sie mit kleinen Hartgummihämmern flach klopfen, Schnallen montieren. Alle lächeln. Einer lässt seinen Hammer fallen, der auf seinen Zehen landet, und stößt einen halblauten Fluch aus, bis er dem finsteren Blick eines Profoses begegnet: Gleich wird aus der schmerzverzerrten Grimasse wieder ein Lächeln, und er reicht den fertiggestellten Lederriemen der nächsten Mannschaft weiter, die für die Brandmalerei zuständig ist und mit erhitzten Sticheln die Gürtel mit hübschen Mustern verziert.
Der weitere Vormittag verläuft ohne Zwischenfälle. Die Jugendlichen ziehen perfekt ihre Nummer ab. Nach den Werkstätten begeben sich alle in den Gebetsraum, wo die Profose vorsorglich die suspekten Inschriften und Votivbilder entfernt haben. Der Reverend verliest einen Abschnitt aus dem Evangelium und schlägt ein gemeinsames Gespräch darüber vor. In heiterem Tonfall äußern die Häftlinge allerlei Meinungen und Einsichten, bis unversehens Betty Patterson, die geistig nicht ganz auf der Höhe ist, die Hand hebt. Der Reverend verwechselt sie aber und erteilt ihr unvorsichtigerweise das Wort. Betty steht auf.
»Und was ist mit der Beichte?«, fragt sie.
Die Jugendlichen blicken den Reverend gespannt an. Er räuspert sich.
»Ich kann dir nachher die Beichte abnehmen, wenn du möchtest.«
»Ich möchte aber lieber öffentlich beichten.«
»Du kannst dich jetzt wieder setzen, liebe Betty.«
Betty scheint ihn nicht zu hören. Wild reißt sie mit den Zähnen an der Nagelhaut, bis sie blutet, und mit blutfleckigem Mund stößt sie hervor: »Ich weiß, dass ich hässlich und dumm bin und Sie lieber hübsche junge Mädchen haben, aber nachdem jetzt die Geilheit wieder angefangen hat und ich die ganze Nacht nicht aufhören kann, mich anzufassen, muss ich unbedingt mit jemandem reden.«
Das Publikum ist wie gelähmt. Die Inspektoren machen sich Notizen. Der Reverend ist sehr bleich geworden.
»Maureen, könntest du Betty wohl dazu bringen, dass sie sich wieder setzt?«
Die Sitznachbarin packt Betty an der Hand und zieht sie auf die Bank. Betty gehorcht. Sie wirkt verwirrt. Auf ein Zeichen des Reverends hin stehen alle auf, formieren sich und ziehen zweireihig zum Refektorium. Das Mittagessen verläuft schweigend. Die Inspektoren rühren ihr Essen kaum an. Bettys Platz ist leer, und die Inspektorin fragt den Vogt Marlow nach ihrem Verbleib, doch Marlow zuckt die Achseln. »Vermutlich bei der Beichte«, sagt er.
»Sagen Sie dem Reverend, dass ich sie nachher zu sprechen wünsche.«
»Sagen Sie ihm das mal lieber selber, schöne Frau.«
Ein kaltes Funkeln ist in Marlows Blick. Die Inspektorin will etwas antworten, doch der Auftritt des Reverends unterbricht sie. Mit schweißfeuchter Stirn schreitet er durch das Refektorium und murmelt Marlow etwas zu. Der nickt. Die Inspektorin nippt an ihrem Kaffee und sieht sich im Raum um. Die Häftlinge lächeln nicht mehr.
»Ich muss mit dem jungen Mädchen sprechen, das vorhin beichten wollte«, sagt die Inspektorin zum Reverend.
»Sie hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich musste ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen. Jetzt schläft sie.«
»Öffentliche Beichten?«
»Wie bitte?«
»Ich möchte wissen, ob solche öffentlichen Beichten öfter vorkommen.«
»Bei uns werden gefährliche und instabile Jugendliche verwahrt. Mir bleibt nur die Zeit, die sie hier interniert sind, um sie auf den rechten Weg zurückzubringen.«
»Es ist uns zu Ohren gekommen, dass Sie Ihre Schutzbefohlenen schlagen und manche von ihnen sogar missbrauchen.«
Esterman mustert die Inspektorin von Kopf bis Fuß.
»Das sind Gerüchte.«
Der Gong verkündet das Ende der Mahlzeit. Die Häftlinge stehen auf und danken Gott, ehe sie das Refektorium verlassen. Der Inspektor legt seine Serviette nieder.
»Wir möchten den Zellentrakt besichtigen.«
Der Reverend gibt Marlow ein Zeichen. Der geht voraus, die Inspektoren folgen. Die Tür des Refektoriums fällt hinter ihnen ins Schloss.
97
Es ist kaum 15 Uhr, als Marlow außer Atem in Estermans Büro stürzt und dem Reverend mitteilt, dass die Inspektoren unvorhergesehen zum Aufbruch drängen. Esterman blickt von seinen Akten auf.
»Ist etwas
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