Sünde einer Nacht (Geschichtentrilogie Band 3 Romantische Geschichten)
bei jedem noch so perfekt geschmierten Räderwerk fällt hier und da ein Sandkorn ins Getriebe. In diesem Falle war er das Sandkorn. Max . Jedenfalls fühlte er sich so, denn er durchbrach die ehernen Regeln der Diktatur, begehrte öffentlich auf, trug bunte Hemden, lange, rote Haare und stand mit seiner Kofferheule stundenlang an den Ecken der Straßen herum und tat nichts. Gar nichts. Er war das Sorgenkind seiner Mutter, einer Leiterin in einem großen Kulturhaus und Mitglied der SED. Das war eine Sensation! Für diese Aufmerksamkeit ging er gerne in den Knast. Diesen Armleuchtern würde er es zeigen.
Es kam, wie es kommen musste. Eines Tages wurde er gefasst.
„Dich werden wir umerziehen! Du arbeitsscheues Subjekt!“, schrieen die Polizisten und zerrten ihn in die Grüne Minna. „Und mit Rias hören ist auch Schluss!“
So begann ein Sommer, der sich in die Erinnerung seines Lebens einbrannte wie kein anderer.
Die Arrestzellen des Gefängnisses befanden sich im Keller, waren drei Meter lang und zwei Meter breit. Eine dicke Stahltür diente zum Verschluss. Ein winziges Waschbecken, ein Regal an der Wand, eine Liege und ein Klo ohne Brille und Deckel waren das einzige Inventar. Der vordere, der Sanitärbereich, war durch ein Eisengitter von dem hinteren Raum getrennt. Die Seitenwände waren grob mit Mörtel verputzt und die Außenwand zur Hälfte aus lichtdurchlässigen Glasbausteinen. Und dort stand er. Max . Wie ein Tiger im Käfig. Doch im Gegensatz zum Tiger, der in seinem begrenzten Raum wenigstens sitzen und liegen darf, war ihm strengstens verboten, sich auf den Boden zu setzen, zu legen oder an die Wand zu lehnen. Er musste sechzehn Stunden am Tag stehen, durfte aber einige Schrittchen tun. Und noch einen Unterschied gab es: Der Tiger bekommt ausreichend zu fressen. Er nicht! Ihm wurde morgens halb sechs eine Scheibe trockenen Brotes in die Zelle geworfen und nachmittags noch eine.
Normalerweise bekamen die Häftlinge in Einzelhaft jeden dritten Tag zur Mittagszeit ein Schüsselchen Suppe. Doch ihm wurde auch dies verweigert. Man vergaß es einfach. Und so stand er in seiner tristen Gefängniskluft hinter dem Gitter. Tag für Tag. Woche für Woche. Mit schmerzenden Beinen und brennenden Gedärmen, umringt von Mörtel, Gitterstäben, Glasbausteinen.
Außer einem Taschentuch hatte man ihm nichts gelassen. Das war der Preis für seine Verweigerung. Und er war stolz darauf.
In der Stahltür war ein winziges Guckloch, durch das er beobachtet wurde. Über der Tür hing ein Scheinwerfer, der ihn stundenlang in grelles Licht tauchte. Bald hatte er nur noch einen einzigen Wunsch: Sich setzen, oder zumindest an die Wand lehnen. Doch hätte er dies getan, wäre er mit Handschellen an die Gitterstäbe gefesselt worden und somit seiner dürftigen Bewegungsfreiheit beraubt. Also hielt er aus und blieb stehen.
In dem hinteren Bereich war die Holzpritsche an der Wand befestigt. Tagsüber hochgeklappt und angeschlossen.
Pünktlich 21 Uhr 30 kam ein Aufseher in die Zelle. Er schloss die Pritsche herunter und legte eine kratzige Decke darauf. Max musste sich während dieser Aktion mit dem Gesicht zur Wand in eine Ecke stellen.
Nach drei Tagen war es ihm unmöglich geworden, den nagenden Hunger zu ignorieren. Die eine Scheibe trockenes Brot, die er am Morgen bekommen, hatte er sich unter qualvollster Selbstdisziplin bis zum Nachmittag aufgeteilt. Doch am vierten Tag aß er die Scheibe schon am Vormittag. Und die Nachmittagsscheibe am Nachmittag. Nach sieben Tagen schmeckte ihm ein Krumen Brot köstlicher als jeder Kuchen der Welt.
Bei allen Erinnerungen, die Max später quälten, war die des Essens die intensivste. Was hatte er bei diesem oder jenem Zusammentreffen gegessen? Was wurde ihm bei einem Besuch angeboten? Was gab es auf dieser Party?
Mit dem Essen verbanden sich Gesichter. Und mit den Gesichtern Geschichten. Die Erinnerungen reichten weit in seine Kindheit. Er erinnerte sich, was seine Oma gebacken, seine Mutter gekocht hatte. Unzählige Anlässe fielen ihm ein. Und die wundersamsten Speisen. Er hatte immer gern und viel und genussvoll gegessen, verabscheute, etwas Essbares auf dem Teller zu lassen. Und doch hatte es schon solche Situationen gegeben. Jetzt bereute er sie. Denn jetzt war es ihm unmöglich, sich das wonnigliche Gefühl des Sattseins vorzustellen. Ja, er konnte nicht einmal glauben, jemals richtig satt gewesen zu sein. Seine Träume
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