Sündenfall: Roman (German Edition)
verängstigten Miene wurde sie von Mitgefühl ergriffen. Wahrscheinlich verdiente der arme Mann hier kaum mehr als den Mindestlohn, war aber auf die Stelle angewiesen, weil seine Pension nicht reichte. Eigentlich hätte sie ihm die Daumenschrauben anlegen sollen, um noch mehr aus ihm herauszuholen. »Passen Sie auf, ich tue mein Bestes, damit Sie keine Schwierigkeiten kriegen«, hörte sie sich stattdessen sagen. »Aber Sie müssen mir helfen herauszufinden, wer die Möglichkeit hatte, sich Zutritt zu diesem Raum zu verschaffen und die Bänder zu stehlen.«
Bei der Aussicht auf eine Gnadenfrist erhellte sich sein Gesichtsausdruck.
Kershaw stand auf und fing an, hin und her zu gehen – wenn sie in Bewegung war, konnte sie besser nachdenken. »Also hat niemand sonst, auch nicht der Hoteldirektor, einen Zweitschlüssel?«
»Nein, den Ersatzschlüssel bewahre ich in einer abgeschlossenen Schublade zu Hause auf.«
»Gut. Also ist das Büro immer verschlossen. Wie übergibt Milo Ihnen dann am Ende der Schicht den Schlüssel, wenn Sie einander nie sehen?«
Derek räumte ein, dass Milo am Ende der Nachtschicht abschloss und den Schlüssel in einem Luftpolsterkuvert verstaute. Auf dem Weg nach draußen steckte er das Kuvert dann in das Postfach des Sicherheitsdiensts hinter dem Rezeptionstisch, sodass Derek es bei seiner Ankunft dort abholen konnte. Kershaw rechnete rasch nach. Bei diesem Arrangement war der Schlüssel mindestens eine Viertelstunde lang sich selbst überlassen – genug Zeit für den Dieb, in die Sicherheitszentrale zu schleichen, die Bänder zu stibitzen und die Einträge im Berichtsbuch zu fälschen, bevor er den Schlüssel rechtzeitig vor Dereks Eintreffen wieder an seinen Platz legte.
»Weiß sonst noch jemand von Ihrem Schlüssel-Übergabesystem?«
Er schüttelte den Kopf. »Nur ich und Milo.«
Gefolgt von Dereks ängstlichen Blicken, lief Kershaw weiter hin und her und kaute an ihrem Daumennagel. Dann nahm sie sich noch einen Garibaldi-Keks und hielt Derek die offene Packung hin. »War Alex Hurley an der Rezeption, als Sie am besagten Morgen den Schlüssel abgeholt haben?«, fragte sie.
ZWANZIG
D as Nachtleben in Gorodnik konnte in einem Mann wirklich Sehnsucht nach den funkelnden Lichtern von Stratford auslösen, dachte Janusz, als er, von zunehmender Verzweiflung ergriffen, durch die menschenleeren Straßen der Stadt ging.
Es war erst sieben Uhr. Er hatte bereits ein reichhaltiges, allerdings jeder Beschreibung spottendes Abendessen, ganz allein und von der Wirtin mit Argusaugen beobachtet, im schummrigen Speisesaal des Pomorski hinter sich gebracht. Sie hatte ihm eine Schale wässriges ż urek serviert, eine Sauermehlsuppe, eindeutig aus der Packung und ohne das unverzichtbare gekochte Ei, gefolgt von einem pier ó g , das mit nichts als Sauerkraut und zu viel schwarzem Pfeffer gefüllt zu sein schien. Natürlich hatte er geflunkert, alles sei köstlich gewesen, er sei jedoch zu satt für eine Nachspeise.
Der Marktplatz lag verlassen da. Nur ein paar Jugendliche wechselten sich dabei ab, auf einem Skateboard über das Kopfsteinpflaster zu rumpeln. Die Rollläden vor den beiden vorhin noch voll besetzten Cafés waren heruntergelassen. Der eisige Wind, der vom laut Touristenkarte einen Kilometer entfernten See her wehte, sorgte dafür, dass Janusz seinen Trenchcoat fester zusammenzog und sich auf die Suche nach einem Glas Bier machte. Dabei verfluchte er Adamski, der ihn in dieses gottverlassene Drecksnest gelockt hatte.
Eine halbe Stunde später nahm er, allen Heiligen dankend, einen großen Schluck Tyskie: Wenn er das kleine Licht am Ende der schmalen Seitengasse nicht bemerkt hätte, wäre er wohl weitergegangen, und dabei war das Pod Kotka die einzige Kneipe, die abends noch geöffnet hatte. Das Lokal war gar nicht so übel. Zwar wiesen die abgewetzten Tische und Stühle und die verblassten Bilder, die Szenen von der Seenplatte zeigten, darauf hin, dass hier seit dem Fall des Kommunismus nicht mehr renoviert worden war, doch der Zigarettenqualm der etwa zwölf Gäste mittleren Alters erzeugte einen gemütlichen Nebel, und im Hintergrund spielte lebhafte Zigeunermusik vom Band.
Offenbar war der Barmann ein gesprächiger Zeitgenosse, und so entfaltete Janusz, nachdem er ihm einen ausgegeben hatte, die Rechnung aus dem Lagerhaus und deutete auf Adamskis Namen. »Ich versuche, diesen Typen wiederzufinden«, sagte er und zündete sich eine Zigarre an. »Ich habe in England ein paar
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