Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)
hatte die Bar noch nie so leer erlebt.
«Es ist noch früh», sagte Barry. «Meine Erwartungen werden sich nicht erfüllen, aber da kann man nichts machen. Ist höhere Gewalt. Den ganzen Tag haben uns Leute angerufen, die wissen wollten, wie sie nach Ledwardine kommen – einer hat sich sogar aus Chester gemeldet. Ich habe gesagt, da müssten Sie zwei Meilen zu Fuß über überschwemmte Felder, aber gehen würde es schon.» Barry zuckte mit den Schultern. «Kann mir gar nicht erklären, warum er danach nicht mehr so richtig begeistert klang.»
«Vermutlich weil er, anders als Sie, nie bei der SAS -Spezialeinheit war», sagte Lol.
Barry nickte weise. Lol sah James Bull-Davies mit Alison Kinnersley aus der vorderen Bar kommen. Alison winkte ihm lächelnd zu. Es schien Lol ein halbes Leben her zu sein, seit er mit Alison zusammengewohnt und einen bittersüßen Song für sie geschrieben hatte.
«Sie bekommen natürlich trotzdem das Honorar, das wir besprochen haben», sagte Barry.
«Barry, vergessen Sie das Honorar. Warum sagen wir das Konzert nicht einfach ab?»
«Auf keinen Fall! Ein paar Leute aus dem Dorf freuen sich schon die ganze Zeit darauf. Es ist Heiligabend, mein Freund. Das Wasser steigt. Es gibt nichts anderes, auf das man sich freuen kann. Ich glaube, in dieser Situation wollen die Leute gern zusammen sein. Zusammen ist man stärker oder so. Außerdem lenkt die Musik sie ab.»
«Also leiste ich hier Sozialarbeit.»
«Ganz genau.»
Barry klopfte Lol auf die Schulter. «Wir verdienen null Komma null, aber morgen fühlen wir uns trotzdem so richtig gut, weil wir es gemacht haben.»
Lol setzte sich neben seinen messingfarbenen Guild-Verstärker und öffnete den Gitarrenkoffer mit der Boswell. Sie schimmerte, als hätte sie einen Heiligenschein. Obwohl sie mit einer flexibel einstellbaren Saitenlage im Steg und einem internen Tonabnehmer ausgestattet war, wirkte sie sogar noch älter als der
Black Swan
.
Lol wusste nicht, was er tun sollte. Ihm war bewusst, wie wenig Merrily verdiente und dass sie sich diese Gitarre auf keinen Fall leisten konnte. Er hatte nicht einmal die Hälfte von dem sagen können, was er zu sagen hatte, denn sie hatte ihn praktisch aus dem Haus gedrängt und behauptet, sie hätte einen dringenden Anruf zu erledigen.
Als er nach Hause gerannt war, um saubere Jeans und trockene Socken anzuziehen, hatte er eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter vorgefunden.
«Hier geht es um Liebe, Laurence»,
hatte Al Boswell gesagt.
«Die Gitarre … also, die Gitarre verdienst du jedenfalls.»
Leises Lachen.
Klick.
«Eigentlich», sagte Annie Howe, «weiß ich doch, warum ich an die Tür gekommen bin. Ich hätte nämlich nicht einschlafen können, ohne zu wissen, warum Karen Dowell bei Mark Connelly angerufen hat, um den Namen des Mannes zu erfahren, der vermutlich von den Kinderschändern mit dem Lasky-Mord beauftragt wurde.»
«Ah.»
«Und dann, als ich Sie tropfnass vor der Tür gesehen habe, ist es mir klargeworden.»
«Tja.»
«Meine Güte, Bliss, Sie müssen echt Probleme haben, dass Sie so einfach hier auftauchen.»
«Ja», sagte Bliss. «Ich würde sagen, damit ist die Situation recht gut beschrieben. Aber was Karen angeht … es war nicht ihre Schuld. Sie hat eine Anweisung ausgeführt, die ich nicht hätte geben sollen. Das war Machtmissbrauch.
Mea culpa.
»
Er nippte an seinem Kaffee und sah sich um. Was ihn an Annie Howes Wohnung überrascht hatte, war nicht die spartanische Einrichtung – die passte perfekt zu ihr –, sondern all die Bücher. Es waren wohl ein paar tausend, und zwar nicht in geschmackvollen Einbauregalen, sondern in ganz gewöhnlichen Regalen, einige davon Marke Eigenbau aus Kiefernholzbrettern und Backsteinen. Bliss sah eine Menge juristischer Fachliteratur, schließlich hatte sie auch einen Juraabschluss, aber auch Geschichte und Geologie und Taschenbuchkrimis. Normale Bücher. Menschliche Bücher.
Vielleicht lagerte sie die hier für einen Freund.
«Ich dachte, Sie würden weggehen», sagte er. «Es ist Heiligabend. Glaube ich.»
«Und wohin?», sagte Howe. «In die Stadt? In einen Club? Kampfsaufen mit meinen
Kumpels
?»
Sie saß unter einer Messingstehlampe mit blauem Schirm in einem Schaukelstuhl, der eindeutig gebraucht gekauft war. Bliss saß auf einem dick gepolsterten Sofa und kam sich dumm vor, weil seine Füße kaum bis auf den Boden reichten.
Außerdem war er ziemlich baff, weil es offenkundig mindestens eine Frau auf der Welt gab,
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