Sündige Seide: Roman (German Edition)
zu verstecken. Bestimmt hatte sie diese Fähigkeit entwickelt, weil sie so früh erwachsen werden mußte. In einem Alter, in dem die meisten Mädchen noch mit Puppen gespielt und Teepartys für ihre Teddys und imaginären Freunde gegeben hatten, hatte sie bereits Erwachsenenprobleme lösen und Erwachsenenentscheidungen treffen müssen.
Aber, verdammt noch mal, er hatte sich mehr an Reaktion erhofft als dieses wortlose Anstarren. Er hatte mit zwei Geliebten geprotzt und sie dann geküßt. Warum beschimpfte sie ihn nicht, ohrfeigte ihn oder versuchte, ihm die Augen auszukratzen? Er hatte aus demselben Grund mit der Angestellten geschlafen, aus dem er sich auch bis zur Nachbartür durchgeschlagen hatte – um seinen sexuellen Frust abzubauen. Beidesmal war er bei dem Versuch, Claire zu vergessen, gescheitert. Die Sachbearbeiterin hatte es so eilig gehabt, sich ihm hinzugeben, daß er beinahe Mitleid bekommen hatte, aber er hatte sie nicht halb so sexy gefunden wie seine Fantasien von einer unbekleideten, willigen Claire. Er hatte eine zufriedenstellende Leistung erbracht, aber nur physisch. In Gedanken war er woanders gewesen.
Jetzt ärgerte ihn Claires unterkühlte Reaktion. Er war in den letzten Tagen durch die Hölle gegangen. Höchste Zeit, andere an seinem Elend teilhaben zu lassen. »Haben Sie hier die Waffe weggeschmissen?«
»Wie?«
Sie hatten länger geschwiegen, deshalb traf sie die Frage vollkommen unvorbereitet. »Sie haben mich verstanden. Sind Sie vom Fairmont aus hierhergegangen, um die Waffe in den Fluß zu schmeißen?«
»Ich habe nie eine Waffe besessen.«
»Das beantwortet meine Frage nicht, Claire.« Er wurde lauter.
»Sie haben eine Menge Freunde, und jeder davon hätte Ihnen einen Revolver besorgen können.«
»Niemand hat mir einen besorgt. Ich weiß ja nicht mal, wie man schießt.«
»Man braucht kein Scharfschütze zu sein, um einem Mann die Eier wegzupusten.«
Sie legte die Arme vor die Brust und umklammerte die Ellbogen. »Es wird langsam kühl. Können wir gehen?«
Sie und die Situation trieben ihn noch zum Wahnsinn. Trotzdem zog er seinen Blazer aus und breitete ihn ihr über die Schultern. Seine Hände glitten unter ihr Haar, zogen es unter dem Kragen hervor und verharrten dann. Er legte die Daumen unter ihr Kinn und drückte ihr Gesicht hoch.
»Was haben Sie dann gemacht, falls Sie damals überhaupt hier waren, Claire?«
»Ich habe auf einer Bank gesessen und auf den Fluß geschaut.«
»Auf einer Bank gesessen und auf den Fluß geschaut.«
»Ganz recht.«
Cassidy hätte alles gegeben, was er besaß oder je besitzen würde, um zu erfahren, was hinter den ruhigen, braunen Augen vor sich ging. Aber es blieb ihm verborgen. Und bis er es wußte, spielte er jedesmal mit dem Feuer, wenn er in ihre Nähe kam. »Gehen wir.«
Schweigend kehrten sie zum Gebäude von French Silk zurück.
Als sie an der Tür standen, packte er sie an der Schulter. »Claire, ich rate Ihnen dringend, sich einen Anwalt zu suchen.«
»Sind Sie so dicht davor, mich zu verhaften?«
»Äußerst dicht. Ihre Geschichte strotzt vor Zufällen. Wenn Sie nicht rundheraus lügen, dann verheimlichen Sie zumindest etwas. Vielleicht versuchen Sie jemanden zu decken. Das weiß ich nicht. Aber Sie sind nicht ehrlich zu mir. Ich weiß, daß Sie alles auf eine Karte setzen, aber Mord verjährt nicht. Solange dieser Fall nicht gelöst ist, werde ich weiterbohren. Früher oder später fördere ich das Steinchen zutage, das das Mosaik vervollständigt.« Er hielt inne, gab ihr reichlich Gelegenheit, ihm zu widersprechen. Zu seiner Enttäuschung schwieg sie. »Nehmen Sie sich einen Anwalt, Claire.«
Sie starrte einen Augenblick ins Leere, bevor sie ihn ansah. Sie wirkte entschlossen. »Nein, das werde ich nicht tun. Ich habe einen Geschäftsanwalt, der sich um die Verträge von French Silk kümmert, und einen Steuerberater. Beide wurden notwendig, als die Firma expandierte, aber schon damals habe ich nur äußerst ungern einem Fremden die Kontrolle über etwas überlassen, das mir gehört.«
Sie atmete tief durch. »Ich werde mein Leben keinem Fremden anvertrauen. Ich glaube, mein Instinkt sagt mir besser als jeder andere, was gut oder schlecht für mich ist. Als ich noch ein Kind war, erzählten mir Sozialarbeiter und Richter, sogenannte Experten, daß es am besten für mich wäre, wenn ich von den Menschen getrennt würde, die ich liebe. Entweder haben diese Leute dummes Zeug geredet, oder sie waren gewissenlose
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