Suendiger Hauch
unerwarteten, heißen Kuss, der sie an einer Stelle berührt hatte, die noch nie zuvor jemand erreicht hatte. Kathryn ließ ihre Zunge über die Lippen gleiten und stellte sich vor, sie könnte ihn noch immer schmecken, wenn sie die Augen schloss. Noch immer konnte sie seine Worte hören, sein Versprechen, sie zu befreien, und die feste Überzeugung, die in seinen Worten gelegen hatte.
Sein Versprechen und die Erinnerung an seinen Kuss würden sie am Leben halten, zumindest für eine Weile. So lange, bis der Schmerz und die Scham zu groß wurden, um sie noch länger ertragen zu können. Dann würde sie eine Entscheidung treffen müssen.
Lucien saß seinem Rechtsberater, Nathaniel Whitley, in dessen Kanzlei in der Threadneedle Street gegenüber. Es war sechs Uhr früh, und draußen hatte dichter Regen eingesetzt, der die gesamte Stadt in dicken, feuchtkalten Nebel hüllte.
Nat saß völlig verschlafen hinter seinem Schreibtisch. Seine Kleidung war zerknittert, als hätte er die Nacht darin verbracht, was Lucien annahm, angesichts des Druckes, unter dem Nat in den vergangenen Stunden gestanden hatte.
Vor fünf Tagen war Lucien zu nachtschlafender Stunde in Nats Stadthaus im Londoner West End angekommen, hatte ihn aus dem Schlaf gerissen und ihn aufgefordert, sofort damit zu beginnen, einen Weg für die Befreiung Lady Kathryn Graysons aus dem St. Bartholomew’s Hospital zu finden.
Doch trotz tagelanger, zermürbender Arbeit war das Resultat alles andere als zufriedenstellend.
»Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten für Sie, Mylord.« Nat war ein gut aussehender Mann Ende vierzig sowie mittlerer Größe und Statur, dessen braunes Haar bereits erste silbrige Strähnen unter der grauen Perücke aufwies. Auf seiner geraden, wohlgeformten Nase saß eine Brille mit Goldfassung. »Tatsache ist, dass sich Dunstan vehement gegen Kathryns Freilassung wehrt - selbst wenn Sie unter Aufsicht von Respektspersonen wie Ihnen und Ihrer Tante stünde. In dem Augenblick, als er von Ihren Bemühungen hörte, begann er damit, sie mit einer eigenen Kampagne zu unterminieren. Er ist ein einflussreicher Mann, Lucien. Während Sie sich immer von politischen und sozialen Belangen fern gehalten haben, stellen sie die Basis von Dunstans Erfolg dar. Er besitzt Freunde in den angesehensten Kreisen und verfügt über ausreichend Geld, um die Taschen jedes Mannes zu füllen, der sich ihm in den Weg stellt.«
»Lady Kathryns Geld«, entgegnete Lucien düster und fuhr sich mit der Hand durchs Haar, um es wieder in die schwarze Schleife in seinem Nacken zurückzuschieben.
»Vielleicht. Wir konnten bislang die Quelle für seinen Reichtum noch nicht ausfindig machen. Ich muss einen meiner Männer darauf ansetzen, obwohl es im Grunde keine Rolle spielt, woher das Geld kommt, solange es von rechtlicher Seite abgesichert ist.«
Ein leichtes Zittern durchfuhr ihn, als er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. Während der letzten Tage hatte er kaum etwas gegessen. Wann immer er an Kathryn denken musste, daran, wie sie an diesem Ort eingeschlossen war und Gott weiß was erdulden musste, verging ihm schlagartig der Appetit. Schlaf hatte er ebenso wenig gefunden. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, tauchte vor seinen Augen das Bild auf, wie sie ihr die Kleider vom Leib rissen und die Aufseher gierig ihre kecken, kleinen Brüste begafften. Er musste an ihren wimmernden Hilferuf denken, das Geräusch, das sich wie ein Messer in sein Inneres schnitt und das ihn jedes Mal voller Entsetzen hochschrecken ließ, wenn der Schlaf ihn für kurze Zeit übermannt hatte.
Er bewegte sich auf seinem hart gepolsterten Lederstuhl. »Wie haben sie herausgefunden, wo sie sich aufhält?«
»Dienstbotengeschwätz. Einige von ihnen waren in der Nacht anwesend, als sie im Schloss ankam. Nach Ihren Worten zu schließen, war ihr Auftauchen ja reichlich spektakulär.«
Lucien nickte zustimmend. Er war naiv genug gewesen, zu glauben, dass Dunstan nicht davon Wind bekäme, bevor er die Sache unter Dach und Fach hatte. »Wie sieht unser nächster Schritt aus?«, fragte er, voller Hoffnung, dass es einen nächsten Schritt geben würde.
»Ich weiß es nicht. Je mehr Informationen wir haben, desto größer ist die Chance, dass wir auf etwas stoßen, das uns weiterhilft. Ich habe versucht, diesen Dr. Cunningham, den Lady Kathryn erwähnt hatte, ausfindig zu machen, doch bislang ohne Erfolg.«
Lucien spannte seine Kiefermuskeln an. »Es ist schon fast eine Woche vergangen.
Weitere Kostenlose Bücher