Sündiger Mond
anderen seufzten sehnsüchtig.
Auch Caroline sah durch ihren Spalt David Childe, Lord Rexton, der auf einem roten Samtsofa saß, die langen Beine übereinandergeschlagen, in einer Hand einen Cognacschwenker, in der anderen eine Zigarre. Seine dunklen, welligen Haare waren ein wenig besser frisiert als beim letzten Mal, als sie ihn gesehen hatte, aber seine Miene gelangweilter Gleichgültigkeit war dieselbe. Er saß ganz allein da, die lackierte Schreibschachtel auf dem Platz neben sich.
»Wer ist dieser Rexton?«, fragte Angelique, die Französin war und zum ersten Mal Sklavin, wie Caroline.
»Er ist Viscount«, antwortete Violet. »Und Anwalt, obwohl man es ihm nicht ansieht. Er ist nur hier, weil er das Geld und die Verträge verwaltet – jammerschade. Seine Sklavin wäre ich gerne.«
»Er ist so kalt wie eine Viper«, warf Narcissa ein.
»Das sagst du doch nur, weil er sich von dir getrennt hat«, sagte Jonquil.
»Sie war letztes Jahr seine Geliebte, aber es dauerte nur wenige Wochen«, flüsterte Violet Caroline zu. »Ohne sie ist er besser dran. Sie hat zu allem und jedem eine Meinung, und sie kann einem den letzten Nerv rauben.«
Angelique stellte die Frage, die Caroline beschäftigt hatte, seit sie Rexton begegnet war. »Warum wird ein Viscount denn Anwalt?«
»Das weiß niemand«, antwortete Violet. »Er ist Partner bei
Burnham, Childe and Upcott, aber wie ich es verstanden habe, arbeitet er nicht wirklich. Er lockt hauptsächlich reiche Klienten in die Kanzlei – und Mädchen wie uns nach Grotte Cachée. Die meisten von uns englischen Mädchen wurden von ihm ausgesucht. Der Teufel mit der Silberzunge! Er könnte eine Nonne dazu überreden, sich hier versteigern zu lassen.«
Rexton, du Erpresser , dachte Caroline und beobachtete, wie er den Cognacschwenker an den Mund hob. Du gewissenloser Schurke!
Sie dachte an die Nacht vor zwei Wochen, als er ihre Angst und ihre Verzweiflung ausgenutzt hatte – eine Verzweiflung, die sie an jenem Nachmittag dazu getrieben hatte, Bram Hugget zu erlauben, seine große Zunge in ihren Mund zu stecken und ihre Brüste zu betatschen. Und das alles für den Halfpenny, den es kostete zu sterben.
»Ein Halfpenny, um die schöne neue Brücke zu überqueren, Miss.« Die Glocken der St. Paul’s Cathedral schlugen Mitternacht, als Caroline dem rundlichen Zollwärter die schwer verdiente Münze hinhielt.
»Ein bisschen spät für eine Dame, um ohne Begleitung unterwegs zu sein«, sagte er und steckte die Münze in die dicke Geldtasche, die er wie eine Schürze um den Bauch trug. »Passt bloß auf, wenn Ihr über die Brücke geht. Die Gaslampen funktionieren noch nicht, und die Nacht ist dunkel mit all den Wolken. Beeilt Euch. Der Wind frischt auf, es gibt bestimmt ein Gewitter.«
Er tippte an den Schirm seiner Lederkappe und wies auf den Fußweg an der Ostseite der Brücke, der mit einem eisernen Drehkreuz abgesperrt war. Es klickte laut, als sie hindurchging.
Die Waterloo Bridge, eine Straßenbrücke mit neun Granit-bogen, war an diesem Tag offiziell eröffnet worden – es war der zweite Jahrestag der Schlacht, nach der sie benannt worden
war –, mit einer Militärkavalkade und einer Prozession, an der auch der Prinzregent, der Bürgermeister, der Duke of York und der Duke of Wellington teilgenommen hatten. Auf der Brücke wehten Fahnen, und auf dem Fluss drängten sich Ausflugsboote und Barken. Schaulustige säumten die Ufer, Terrassen und Dächer, um die Zeremonie mitzuerleben. Es war das aufsehenerregendste Ereignis, das Caroline je erlebt hatte.
Die Ankunft des Prinzen auf der königlichen Barke wurde mit Kanonenschlägen begrüßt, die so laut hallten, dass Caroline sich die Ohren zuhalten musste. Und trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals, weil sie dabei an Aubrey denken musste, der zwei Jahre zuvor von einer Eisenkugel zerschmettert worden war.
Sie stand zwischen brüllenden Fremden, hielt die Augen fest geschlossen und dachte an ihren geliebten Aubrey und ihr elendes Leben, seit sie ihn verloren hatte. Und in diesem Moment war ihr auf einmal klar, warum es sie gerade zu dieser Brücke gezogen hatte. Seltsame Wärme und Gelassenheit stiegen in ihr auf, als ob Aubrey sie in eine warme Decke hüllte und ihr zuflüsterte: »Heute Abend. Tu es heute Abend, Geliebte, dann bist du immer bei mir.« Noch nie hatte sie so ruhige Entschlossenheit verspürt.
Und sie war immer noch entschlossen, als sie in jener Nacht den Fußweg entlangging. Eine Hand glitt über
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