Sündiges Abenteuer: Roman (German Edition)
an.
So schmeckte Angst.
»Michael?« Ihre Stimme zitterte. »Du hast die Schlüssel.«
»Ja.« Er hielt Sandres Schlüssel in der Hand. Darum zog er Gotzons Schlüssel aus der Tasche und nahm sie in Augenschein. Sie lagen schwer und kalt in seiner Hand, und er war von so schrecklichem Entsetzen gepackt, dass er sich nicht bewegen konnte.
Wie konnte er in diese dunkle Erdhöhle gehen, in der Stunde auf Stunde folgte, Tag auf Tag ohne Licht und Wärme, ohne den Klang einer menschlichen Stimme oder die Wärme einer Berührung? In dieser Höhle dehnte sich jeder Augenblick unendlich, bis allzu bald Sandre zurückkam und ihn aus der Zelle zerren ließ, um ihn dann Rickie zu überlassen, wie eine Katze der anderen eine Maus zum Spielen überließ.
»Michael, ich brauche dich.« Emmas Stimme war nur ein Hauch.
Emma. Wenn er sich nicht bald in Bewegung setzte, würde sie sterben.
Er machte einen ersten Schritt in die Zelle. Die Angst streifte seine Haut wie eisige Spinnweben. Noch ein Schritt. Der vertraute Geruch nach Schimmel und Moder erfüllte seinen Kopf. Noch ein Schritt. Sein Verstand schrie: Das ist eine Falle! Raus hier!
Dann beleuchtete die Fackel Emmas Gesicht, das ihm zugewandt war. Sie wirkte dünn und müde, aber sie betrachtete ihn mit strahlenden Augen, als ob er stark und tapfer sei.
»Hör auf«, murmelte er.
»Aufhören? Womit denn? Ich kann mich nicht bewegen.« Ihre Hände waren an die Wand gekettet, die Füße zusammengekettet, und die Kette von den Füßen führte hinauf zu den Händen.
Er sank vor ihr auf die Knie, legte die Fackel behutsam auf den Boden und versuchte, im spärlichen Licht an Gotzons Schlüsselring nach einem kleineren Schlüssel zu fahnden, der in die Handschellen passte. »Hör auf, mich so anzusehen. Als käme ich ohne Angst hier runter, um dich zu retten.« Er fand den Schlüssel und probierte ihn an den Fußfesseln aus.
Seine Hände zitterten, und der Schlüssel landete neben dem Schlüsselloch. Der metallische Laut gellte ihm in den Ohren.
»Sandre hat mir erzählt, dies sei früher deine Zelle gewesen. Er hat mir erzählt, was er dir angetan hat. Ach, Michael.« Sie hob die Hand und versuchte, seine Wange zu berühren, aber die Kette rasselte, weil sie allzu schnell und noch Zentimeter von seinem Gesicht entfernt das Ende erreichte. »Du wusstest, was dich hier unten erwartet, als du hergekommen bist. Du wusstest, dass sie dich ein zweites Mal gefangen nehmen und foltern könnten. Du wusstest, dass du bei meiner Rettung getötet werden könntest. Trotzdem bist du gekommen. Ich hoffe, du bist meinetwegen gekommen. Aber ich weiß auch, dass du vor allem deshalb gekommen bist, weil du immer das Richtige tust.«
Erneut schob er den Schlüssel ins Schloss, aber das Zittern wurde immer schlimmer. Er konnte es nicht. Er konnte einfach nicht den letzten Schritt machen, um sie zu befreien.
Er war ein Versager.
»Ich mache nicht das Richtige«, erwiderte er leise. »Ich tue das, was ich tun muss.«
Sie lachte. Sie schaffte es tatsächlich, zu lachen! Bestimmt hatte hier unten noch nie jemand gelacht, und dieser Laut schaffte es, die Dunkelheit zu vertreiben. »Du hättest nichts davon tun müssen . Nach deiner Freilassung aus dem Kerker und nachdem du einen Weg gefunden hattest, aus Lady Fancheres Zelle zu entkommen, hättest du einfach heim nach England gehen können. Wer hätte dir einen Vorwurf gemacht? Stattdessen hast du das Kostüm des Schnitters angelegt und bist für die Gerechtigkeit geritten. Als du erfahren hast, dass ich gefangen genommen wurde – und das, nachdem du mich davor gewarnt hast, zu reiten –, hättest du mich der Bestrafung überlassen können, die ich vermutlich auch verdient habe. Stattdessen stellst du dich diesem Schrecken. Du warst gerade eben noch völlig gelähmt vor Schreck. Trotzdem bist du hereingekommen, weil du mich retten willst. Es ist eine bewusste Entscheidung, den ehrenvollen Weg zu gehen. Tapferkeit ist auch eine bewusste Entscheidung. Und du bist der mutigste Mann, den ich kenne!« Sie versuchte, ihn zu berühren, aber erneut erreichte sie das Ende ihrer Handfessel. »Ich wäre jedenfalls irgendwann hier unten wahnsinnig geworden. Aber ich wusste, dass du kommst und mich rettest. Das hat mich am Leben erhalten.«
Während sie sprach, ließ das Zittern seiner Hände nach.
Er öffnete die Fußfesseln und dann die Handschellen. Danach zog er sie einfach in die Arme und hielt sie eine Minute lang an sich gedrückt. Nur eine
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