Süße Fesseln der Liebe
Menge. Die Menschen sprangen von den Bänken auf, stopften sich die letzten Bissen in den Mund, leerten die Bierkrüge und drängten sofort in Richtung Hof.
Es handelte sich um einen Rasthof für Postkutschen, wie Aurelia schließlich feststellte. Die Kutschen strömten aus der gesamten Gegend herbei und reisten mit neuer Fracht wieder ab. Nun, grübelte sie, wenn man unerkannt bleiben will, dann ist man hier sicher genau richtig. Niemandem, den sie kannte, würde es im Traum einfallen, sich an diesen Ort zu begeben. Aber wo steckte der Colonel?
Sie schaute sich um, versuchte, seine große Gestalt irgendwo in der Menge auszumachen. Mit seiner gebieterischen Haltung und der verhaltenen Eleganz seiner Kleidung musste er doch leicht zu entdecken sein. Vielleicht war er noch nicht eingetroffen. Vielleicht hatte man ihn aufgehalten. Vielleicht würde er gar nicht mehr auftauchen … Überrascht stellte sie fest, dass sie auf diesen Gedanken spontan mit Enttäuschung reagierte.
Im Schankraum war es ruhiger geworden, nachdem die letzte Kutsche mit den Fahrgästen abgereist war. Die übrigen Gäste warteten auf die nächste Kutsche, wohin auch immer sie fahren mochte; aber der anfängliche Tumult war abgeebbt. Aurelia ging wieder zur Tür und schaute hinaus in den Hof. Auf diesem Weg würde er eintreffen. Entweder mit der Kutsche oder zu Pferd. Aber auf jeden Fall würde er den Torbogen passieren müssen, der von der Straße aus in den Hof führte.
Wieder spürte sie, wie ihre Kopfhaut kribbelte und ein erregender Schauder ihr über den Rücken rann. Er ist hier. Natürlich würde er ganz anders aussehen, als sie es erwartete. Schließlich arbeitete der Mann als Geheimagent und befand sich gerade im Einsatz. Nein, Sir Greville Falconer würde nicht den Torbogen passieren und in den Hof spazieren. Er würde als jemand anders auftauchen.
Langsam wandte sie sich dem Schankraum zu und schaute sich um, diesmal allerdings mit anderen Augen. Und sie erkannte ihn auf Anhieb. Er kauerte in der Ecke nahe dem Kamin und hatte sich über seinen Bierkrug gebeugt. Der alte Mantel hing bis auf den Boden, die knorrigen Hände steckten in fingerlosen Handschuhen und hatten sich fest um den Bierkrug geschlossen. Die schmierige Mütze hatte er sich tief in die Augen gezogen. Trotzdem erkannte sie ihn sofort.
Bedächtig schritt Aurelia über den sägemehlbedeckten Boden, bis sie bei ihm angekommen war. Sie grüßte nicht, sondern setzte sich ihm gegenüber auf die Bank und beobachtete ihn. Diese tiefgrauen Augen sind unverkennbar, schoss es ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, ob es jemals notwendig gewesen war, dass er diese Augen verbarg. Und wenn ja - wie hatte er es angestellt?
»Gut gemacht«, grüßte er weich. »Ich hatte erwartet, dass Sie viel länger brauchen.« Er griff in die Tasche seiner fleckigen Weste und zog einen Schlüssel heraus. »Gehen Sie hoch in den ersten Stock … dort die zweite Tür links.« Er ließ den Schlüssel quer über den Tisch schlittern. »Ziehen Sie sich die Kleider im Schrank an. Ich werde hier auf Sie warten.«
Aurelia nahm den Schlüssel. Am liebsten hätte sie schallend gelacht, so sehr amüsierte sie sich über das geheimnisvolle Theater. Aber ein ungutes Gefühl in ihrem Magen verriet ihr, dass die Angelegenheit alles andere als lachhaft war. Es gab nur einen einzigen Grund: Greville Falconer wollte nicht, dass irgendjemand erfuhr, wo er sich aufhielt. Es gab Menschen auf dieser Welt, die ihn lieber tot als lebendig gesehen hätten - wie Frederick es ihr schon in seinem Brief verraten hatte. Der Gedanke erschien ziemlich dramatisch. Aber hatte das Drama nicht bereits in jenem Moment mit Pauken und Trompeten Einzug in ihr Leben gehalten, als sie die Wahrheit über Frederick erfahren hatte?
Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich vom Tisch und ging zur Treppe in der anderen Ecke des Schankraums, stieg die knarrenden Stufen hinauf in den ersten Stock, steckte den Schlüssel in das Schloss der zweiten Tür links und drehte ihn herum. Die Tür öffnete sich zu einer kleinen Kammer, die nur von einer stark riechenden Talgkerze auf einem klapprigen Tisch unter dem Fenster erhellt wurde. Ein Feuer flackerte verdrießlich im Kamin. Trotzdem freute Aurelia sich über das bisschen Wärme, während sie den Blick über die Kleider im Schrank schweifen ließ. Sie schauderte, als sie daran dachte, dass sie ihre warme Kleidung zugunsten dieses verschlissenen Kittels ablegen sollte.
Wollte er sie mit
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