Sueße Prophezeiung
war sich nicht ganz sicher, weil sie nie auf der Burg gewesen war, die dem Laird des Clans gehörte. Hanoch hatte den Umständen nicht genügend getraut, um sie dorthin zu bringen. Er hatte gewusst, dass die Pikten bezahlt worden waren, erkannte Avalon jetzt. Die ganze Zeit musste er es gewusst haben. Das würde vieles erklären: zum Beispiel, warum er in jenem abseits gelegenen kleinen Dorf bei ihr und einigen seiner vertrauenswürdigsten Leute hauste. Und in einem Cottage wohnte, wenn er doch die ganze Zeit in einer Burg hätte residieren können. Das Dorf hatte schon immer den Kincardines gehört, doch es lag außerhalb, und die umliegenden Ländereien waren im Besitz langjähriger Verbündeter. Im Falle eines Angriffs gab es einen Ort, an den man fliehen konnte.
Hanoch war sich stets der Gefahr bewusst gewesen. Immer wieder besuchte er Sauveur und hielt die Fassade seiner normalen. Lebensführung aufrecht. Doch sie war ununterbrochen in jenem Dorf geblieben. Wie sie sich vor seinen Besuchen gefürchtet hatte!
Allerdings funktionierte sein Plan, sie zu verstecken, gut. Es dauerte sechs Jahre, ehe Gerüchte bezüglich ihres Überlebens nach England durchsickerten, und ein weiteres Jahr verstrich, bis der englische König sie von Hanoch wegholte. Man hatte angenommen, dass sie bei dem Überfall, der ihren Vater und so viele andere das Leben gekostet hatte, umgekommen war. Allgemein hieß es, ihr Körper sei in der Burg verbrannt. Und Avalon hatte von all dem nichts gewusst, bis sie nach England geholt wurde.
Ihrer Auffassung nach wussten alle, dass sie in jenem kleinen Dorf in den Highlands lebte, und es war ihnen recht. Hanoch hatte sie in diesem Glauben gelassen. Doch die ganze Zeit über hatten nur die Kincardines Kenntnis von ihr.
Wie wütend Hanoch geworden war, als die Engländer ihre Rückkehr forderten. Er hatte nicht vorgehabt, sie zu erwähnen, bis sie mit seinem Sohn verheiratet war. Dann wäre sie natürlich für alle Zeiten an beide gebunden gewesen.
»Euer Vater muss hoch erfreut sein, dass Ihr wieder zu Hause seid«, sprach Avalon in die Stille des Waldes hinein, während sie sich fragte, wie das Wiedersehen wohl ausfallen würde.
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Marcus nach einer Weile. »Er ist vor elf Monaten gestorben.«
»Vor elf Monaten?« Keiner hatte sie benachrichtigt. Sie konnte es nicht glauben.
»Ja.« Er ließ sie die Neuigkeit verdauen, ehe er fortfuhr. »Man sagte mir, seine letzten Worte hätten Euch gegolten.«
Sie gab ein bissiges Lachen von sich. »Irgendetwas wie ›Denk daran, die Erbin zu entführen‹, nehme ich an.«
»Irgendetwas Derartiges«, bestätigte er.
Genau gesagt, hatte Marcus etwas ganz anderes gehört. Hanoch war bettlägerig geworden und innerhalb kurzer Zeit an Fieber oder Schüttelfrost oder dergleichen gestorben. Die Zeit hatte nicht mehr gereicht, einen Arzt zu holen. Einer von Hanochs älteren Freunden hatte Marcus einen Brief geschickt, in dem er ihm mitteilte, dass sein Vater gestorben war, und ihn bat, aus dem Heiligen Land nach Hause zurückzukehren. Er solle seine Pilgerfahrt beenden und heimkommen, um seinen Clan anzuführen.
Als Marcus diesem Wunsch Folge leistete, hatte derselbe alte Mann ihm im Verlaufe einer langen Nacht bei Whiskey und haggis den Rest der Geschichte erzählt. Er begann damit, dass Hanoch kurz vor seinem Tod von Lady Avalon gesprochen und sie sein Mädchen genannt hatte – als ob sie mit im Zimmer gewesen wäre. Er lobte sie, dass sie sich herausgemacht und gut gelernt hätte, was sie wissen musste. Hanoch hatte sich eigentlich nicht richtig entschuldigt für alles, was ihr zugestoßen war, berichtete der Mann. Aber er nahm an, dass der alte Laird das doch irgendwie gemeint hatte.
»Ich glaube, er mochte Euch recht gern«, erklärte Marcus seiner zukünftigen Frau und spürte, wie sie sich versteifte.
»Eine merkwürdige Art von Zuneigung«, erwiderte sie spöttisch. »Das zu schlagen, zu erniedrigen und zu verhöhnen, was man gern hat.«
Wenn es auch Hanoch nicht Leid getan haben mochte – so doch nun Marcus, der einen heftigen Schmerz in sich spürte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, solch ein liebliches Mädchen zu schlagen, auch wenn sie sicher in der Lage gewesen war zurückzuschlagen. Die Vorstellung, dass man ihr hart zugesetzt hatte, ließ ihn verstummen und erfüllte ihn mit einem sinnlosen Zorn auf seinen Vater. Oh, es war zu spät, Hanoch zu schmähen. Der alte Mann hätte ihm ohnehin bloß ins
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