Sueße Prophezeiung
begann, die Naht aufzutrennen. Die Klinge war scharf und hatte genau die richtige Größe; so schaffte sie es schnell. Sie hielt das Gewand hoch und schüttelte seinen Inhalt ins Gras.
Eine Flut von Edelsteinen, Broschen und Ohrringen, Ringen und Anhängern ergoss sich mit weichem Klang auf den Boden. Perlen und Saphire, Smaragde, Rubine und Gold, Topase, Aquamarine und Amethyste – sie alle stammten von Gwynth, gehörten deshalb allein Avalon, die damit tun konnte, was sie wollte.
Nach einigem Ächzen und Stöhnen sagte niemand mehr ein Wort.
»Hier!« Avalon bückte sich und hob eine Brosche mit zwei großen, perfekt geformten Perlen hoch, von denen eine weiß und die andere schwarz war. Sie hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. Dann entdeckte sie einen Ring mit einem rund geschliffenen Smaragd. Ein helles Feuer schien in ihm eingeschlossen – ein Drachenauge in Gold gefasst. »Und hier!«
Sie schaute sich um und blickte in ihre erstaunten Gesichter; Marcus’ versteinertes Antlitz, während Balthazar und Gawain MacAlister sie offen anlächelten. Avalon ging zum Zauberer und reichte ihm Brosche und Ring, wohl wissend, dass Marcus ihr Geschenk nicht annehmen würde.
Wieder bei den Truhen, zerrte sie das dunkelblaue Kleid hervor, trennte es auf und noch mehr Perlen kullerten heraus. Zahllose Stränge aus weißen, schwarzen, cremefarbenen, rosafarbenen und sogar aus seltenen blauen Perlen wurden sichtbar. Alle starrten sie überwältigt an. Keiner rührte sich.
»Hier«, rief sie wieder, doch jetzt schon etwas ruhiger. Sie wies auf den Boden zu ihren Füßen. Ein wahrer Schatz türmte sich dort auf, und die Edelsteine fingen das Sonnenlicht ein, das Gold glänzte hell und die Perlen wirkten wie einzelne Glückstränen im Gras.
»Das ist für Euch«, sprach sie und schaute Marcus nunmehr direkt an. »Für Getreide und Lachs! Für die Stallungen und die zusammengebrochenen Mauern und noch mehr Webrahmen!«
Ein Summen rauschte durch die Menge, gewann an Kraft und wurde zu einem lauten Schrei der Freude. Männer und Frauen warfen die Arme in die Luft, umarmten einander und ließen sie und ihre Gaben hochleben – eine weitere Prophezeiung des Fluches hatte sich erfüllt!
»Nein ...«, wehrte Avalon ab, aber man hörte sie nicht. Dies war nicht die Prophezeiung! Dies war eine Tatsache, ein Vermögen aus echten Dingen – kein Mythos!
Die Luft um sie her vibrierte vor Emotionen. Ein Freudentaumel hatte alle erfasst. Die Braut war gekommen und hatte ihren Reichtum mitgebracht. Sie beendete damit ihre Tage der Not und allen auf Sauveur würde es wieder gut gehen!
Einige stolperten auf sie zu, knieten vor ihr nieder und küssten den Saum ihrer Röcke. Die Frauen schluchzten, und Avalon zog sie eilig wieder hoch, damit sie nicht mehr zu ihren Füßen kauerten.
»Nein, nein«, versuchte sie ihnen zu erklären. »Das hat nichts mit dem Fluch zu tun. Gar nichts!«
Doch sie schenkten ihrem Protest keine Beachtung, sondern reichten einander mit zitternden Händen die Juwelen, trugen sie zu Marcus und boten sie ihm dar. Er wandte seinen unverwandten Blick von Avalon ab, um den Kopf ablehnend zu schütteln. Aber dann musste er nachgeben, weil sie ihn drängten, alles zu nehmen, die Ringe, die Perlenketten, die Broschen. Immer mehr Gold und Juwelen lagen schwer auf seinen Händen, und immer schien es ihm nicht genug zu sein.
Zustimmend nickte die Chimäre.
Das war es nicht, was Avalon gewollt hatte. Sie hatte der Legende keinen Vorschub leisten, sondern sie zum Schweigen bringen wollen; diese Menschen sollten begreifen, dass sie nicht irgendwelche Legenden brauchten, sondern harte Fakten. Doch sie hatten ihre Vorstellungen genommen und diese um ihre Fabel gehüllt – womit sie Avalon so schnell und rücksichtslos erledigten, wie Ian es für gewöhnlich getan hatte, der sie immer wieder zu Boden zu schlagen pflegte, bis sie sich wand.
Die junge Herrin presste die Hände an die Wangen und schaute zu Marcus zurück. Endlich lächelte er, denn jetzt kannte er ihre Gedanken und sah, wie die Legende in diesem Moment ihre Wurzeln noch tiefer grub.
Sie trat durch die Menge, nahm das dritte Kleid, den Umhang mit den Münzen und legte beides über ihren Arm. Marcus behielt sein Lächeln bei, als sie sich näherte. Er gab ein erstaunliches Bild ab. Seine maskuline Ausstrahlung wurde verstärkt von dem Gold und glitzerte in den Juwelen, die er hielt. Er sah jetzt wirklich wie ein himmlisches Wesen aus, das nur für
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