Sueße Prophezeiung
sein, denn draußen war doch Nacht. Das wusste sie. Es war Nacht und das Mondlicht so mild gewesen. Aber die Sonne verbrannte ihre Hand, dort wo der Ärmel sie nicht schützte. Sogar dieser kurze Moment versengte ihre Haut, und sie musste die Hand herunternehmen. Sie tastete nach dem Tisch im Söller – aber er war nicht da.
Hört!, riefen der Zauberer und die Chimäre gemeinsam, und jetzt hörte sie den Wind draußen. Ein Sandsturm, der gegen die Mauern hämmerte, in den Raum kroch und ihre Lungen noch mehr verkohlen ließ.
Mit gesenktem Kopf taumelte sie nach vorn. Sie musste fort von diesem Ort, fliehen, Wasser finden.
Die Wirtschaftskammer. Da würde es welches geben. Nein, besser noch ihr Zimmer – das lag näher. Dort wartete ein Krug auf sie.
Sie stieß gegen die Wand im Gang. Der Sandsturm dröhnte nun lauter, und sie konnte immer noch nichts sehen, sodass sie sich ihren Weg an der Steinwand entlang ertasten musste. Die Steine waren heiß von der Sonne. Sie konnten nicht so kühl sein, wie sie eigentlich sollten, weil die Sonne hier niemals unterging. Die Sonne verbrannte alles zu Asche, sogar die Steine. Alles Wasser auf der Erde war mittlerweile verdampft. Es gab keines mehr.
Avalon legte beide Hände vor ihr Gesicht, ohne auf den Schmerz ihrer verbrannten Haut zu achten. Sie versuchte zu laufen, um Unterschlupf zu finden. Doch es fehlte das Wasser. Was sollte sie also mit solch einer Zuflucht anfangen? Warum konnte sie nicht einfach sterben? Warum töteten sie sie nicht einfach?
Als sie die Hände von ihrem Gesicht nahm, wusste sie nicht, wo sie sich befand. Sie kannte den Raum nicht. Er war beengend und der Boden mit einer dicken Schicht Sand bedeckt. In dem Raum befand sich ein Tisch, auf dem man einen Mann gefesselt hatte. Er war rot und braun und schwarz. Seine Lippen boten ein Schreckensbild des Durstes. Sogar das Blut auf ihnen war zu einer Kruste eingetrocknet. Sein Haar war verfilzt und dreckig, ein wilder Bart bedeckte seine Wangen.
Irgendwie gelang es ihr nicht, sich vom Tisch wegzubewegen. Die Seile waren zu fest gebunden. Sie hatte keine Kraft mehr, gegen sie zu kämpfen. Warum töteten sie sie nicht endlich? Warum musste sie so leiden?
Der Tod war ein Paradies, zu dem ihr der Zutritt verwehrt wurde.
Ein Tropfen berührte ihre Lippen, rann über ihre Zunge und war fort, ehe sie ihn hatte kosten können. Ihr Mund hatte ihn einfach aufgesaugt.
»Mehr?«, fragte eine sanfte Stimme in einer fremden Sprache. Doch sie wusste, was es bedeutete, dieses eine Wort: Wasser.
Ja!, versuchte sie zu rufen, aber nichts kam heraus. Nicht ein Wort, kein einziger Laut. Sie konnte nicht einmal ihren Kopf bewegen. Um ihre Stirn lag ein Seil, das sie an den Tisch fesselte. Die Seile schnitten in ihr Fleisch und ließen sie noch mehr bluten.
»Ja!«, schrie Marcus laut auf dem riesigen Bett, während er sich auf eine Art und Weise wälzte und wand, wie sie es nicht vermochte, und sich dabei in den Pelzen und Decken verfing.
Sand rieselte durch die Ritzen in den weißen Wänden. Sand überzog das dunkle Holz des Kruzifix’, das über dem Tisch hing, und verhüllte die Dornenkrone auf dem Kopf des Gekreuzigten.
»Schwöre ab«, sprach die gleiche merkwürdig sanfte Stimme in jener fremden Sprache, und wenn sie ihre Zunge aus ihrer wüstenartigen Trockenheit hätte befreien können, so hätte Avalon ihre Zustimmung gelallt, Ja, ja, was immer Ihr wollt, nur gebt mir etwas Wasser ...
Marcus warf seine Arme zur Seite und stöhnte im Schlaf. Das Mondlicht erhellte sein Gesicht und zeigte ihr sein zu einer finsteren Grimasse verzerrtes Antlitz. Sein Haar war nicht verfilzt. Da war kein Bart. Es gab keinen Sand in diesem Raum.
Avalon schaute sich noch einmal, eingehender um. Hier sah sie keinen Sand, keine Sonne, keine Stimme, kein Kruzifix. Es war immer noch Nacht und sie auf Sauveur – dies mussten die Räumlichkeiten des Laird sein.
»Hilfe«, wisperte Marcus im Schlaf. Sein Körper bäumte sich förmlich auf, als er sich unter Folterqualen oder Schmerzen des Albtraumes, der ihn in seinem Würgegriff hielt, wand.
Avalon stand neben der Tür und stützte sich an der Wand ab. Sie spürte den kalten Stein unter ihren Fingern. Kein Hauch von Hitze berührte ihre Haut. Sie rang immer noch nach Atem und versuchte, sich zu orientieren.
Auf dem Tisch am anderen Ende des Raumes stand ein Krug. In dem Krug würde Wasser sein.
Sie ließ die Wand los und rannte darauf zu. Fast schrie sie beim Anblick des im
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