Sueße Prophezeiung
er anzubieten schien. Sie nahm den Unterschied wahr. Er erkannte es daran, dass ihr Lächeln völlig verschwand und durch einen Blick ersetzt wurde, der ihn ein wenig atemlos werden ließ.
»Nun denn«, erklärte sie, »einverstanden!«
Sie zog sich schneller an, als er für möglich gehalten hatte – zumal keine Zofe ihr zur Hand ging. Er hatte draußen im Gang nur einige Minuten gewartet, als sie, angetan mit einem Tartan und einem ordentlich geflochtenen Zopf, über die Schwelle trat.
Lässig lehnte er an der Wand, als sie zu ihm aufblickte. Schweigend verbeugte er sich vor ihr. Gemeinsam durchmaßen sie die große Halle, wo viele noch auf den Bänken schliefen. Im Burghof lagen schon ihre Angeln bereit.
Einige Bewohner der Burg waren emsig dabei, den neuen Tag vorzubereiten. Am Himmel zeigte sich die erste Morgenröte. Sie riefen dem Laird und der Braut Begrüßungen zu, als diese durch das Tor wanderten, um einen Weg zu nehmen, den er aus seiner Kindheit kannte. Marcus hoffte, dass es die kleine Insel im Fluss immer noch gab, beziehungsweise den Fluss ... Er war nicht mehr Angeln gegangen, seit er Sauveur verlassen hatte, um sich Trygves Haushalt anzuschließen.
Leichtfüßig schritt Avalon neben ihm her. Sie trug nur ihre eigene Angel, alles andere er, weil er darauf bestanden hatte. Irgendwie wollte er ihr doch beweisen, dass er ein Gentleman war, trotz seiner bisherigen Übergriffe – trotz aller gegenteiligen Anzeichen.
Er wollte, dass sie ihn mochte, erkannte Marcus. Das war demütigend, vielleicht sogar Mitleid erregend, aber nichtsdestotrotz wahr. Und genau deshalb hatte er sie an diesem schönen Morgen geweckt – um seine Zeit mit ihr zu verbringen, um sie lachen zu sehen.
Die letzten Tage waren eine einzige Qual für ihn gewesen. Er konnte nicht vergessen, was im zerfallenen Torhaus zwischen ihnen vorgefallen war, wie sie darauf reagiert hatte. Statt von ihr loszukommen, musste er sogar immer mehr von ihr haben, und in irgendeinem tiefen Winkel konnte er wirklich nicht sagen, was für ein Ende das nehmen sollte. Er brauchte sie eindeutig mehr, als sie ihn je brauchen würde. Das machte ihn zum schwächeren Part in ihrer Beziehung, wo er eigentlich der Stärkere sein müsste.
Welch eine Qual war es gewesen, sie nicht gleich dort im Torhaus zu lieben, als er sie bereits aufs weiche Gras gebettet hatte und sie ihn festgehalten, geküsst und auch gewollt hatte. Vielleicht war es seine erste wahre Tat als Gentleman, sich die ganze Herrlichkeit Avalons zu versagen, wo sie doch, ja alles an ihr, alles war, was er je wirklich wollte.
Im Wald tauchte das frühe Morgenlicht sie in rosiges Gold, wodurch sie die Bäume, Gräser und Farne an Anmut übertraf. Ihr Gang war graziös und ungeziert. Man spürte nichts von den modischen Zwängen winziger Schritte, denen sich die meisten vornehmen Damen unterwarfen. Ihre Haut wirkte taufrisch, und ihre Augen strahlten in einem hellvioletten Farbton. Sie trieb ihn in den Wahnsinn.
Das war seine größte Furcht. Denn außer ihrer ungewöhnlichen Schönheit wohnten ihr definitiv ein Fluch und eine gewisse Unergründlichkeit inne. Ihre magische Gabe war wohl an die hundert Mal größer als seine eigenen Fähigkeiten. Doch sie wurden durch die ihren verstärkt, sodass ihn seine alten Albträume erneut heimsuchten.
Lange Zeit war es ihm gelungen, Damaskus zu vergessen. Zumindest hatte er das geglaubt. Immer wenn die Erinnerung wiederkam, hatte er sich auf den Orangenhain in jenem verschwiegenen spanischen Dorf konzentriert. Dessen duftende Farbenpracht und Wärme lagen Welten entfernt von jenem grausigen Teil seiner Vergangenheit. Die Äste der hohen Bäume mit ihren spitzen Blättern und weißen Blüten bogen sich unter der Last der saftigen Früchte.
Er versuchte, sich den Geschmack einer dieser Blutorangen in Erinnerung zu rufen. Immer wenn Damaskus an die Oberfläche seines Bewusstseins drang, dachte er stattdessen an das Fruchtfleisch jener fernen Genüsse, deren intensives Aroma und saftige Süße kühl über seine Zunge rann.
Und dann war Avalon gekommen und mit ihr dieses zweischneidige Schwert des Fluches; er träumte wieder von Damaskus, und nicht einmal die süßen Orangen konnten das verhindern.
Die letzte Nacht ... ein gespenstischer Rückfall. Denn der Albtraum war wiedergekommen und hatte ihn in seinen Würgegriff genommen, um ihn in jene Wüste zu stoßen und unsäglichen Durst leiden zu lassen. So heftig hatte es Marcus schon jahrelang nicht
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