Süße Rache: Roman (German Edition)
berühren. Er machte sich keine Illusionen darüber, was geschehen würde, sobald er sie beschwichtigt und ihr begreiflich gemacht hatte, dass er ihr nichts tun würde. Ob sie danach noch etwas mit ihm zu tun haben wollte, lag allein an ihr – und da machte er sich keine Illusionen.
Er sah auf die Uhr. Er hatte noch zwanzig Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Wenn er feststellen wollte, wo sie jetzt war, musste er seinen Laptop aus dem Auto holen und die Sender anpeilen, mit denen er ihr Handy und ihr Fahrzeug verwanzt hatte, aber dazu war immer noch Zeit, falls sie nicht auftauchte.
Er setzte sich auf einen Küchenstuhl und wartete.
Andie fuhr zweimal an ihrem Haus vorbei, bevor sie in die Einfahrt bog. Ihr war nichts Ungewöhnliches aufgefallen, aber sie wusste auch nicht, was für einen Wagen er fuhr, sodass sie ihn unmöglich ausmachen konnte. Die Autos am Straßenrand waren alle dunkel, still und leer, soweit sie erkennen konnte.
Es war riskant, noch einmal nach Hause zu fahren. Das wusste sie. Angenommen, Cassie hatte ihn gesehen, als er sie aufgespürt hatte, dann hätte er ihr den ganzen Monat über zu ihrem Haus folgen können. Womöglich hatte er sie aber auch schon vor Monaten aufgespürt. Trotzdem musste sie ihren Schmuck und den Bargeldvorrat holen, denn davon müsste sie in der nächsten Zeit leben. Sie müsste sich eine neue Identität zulegen, erkannte sie deprimiert, und das kostete jedes Mal einen ziemlichen Batzen.
Nichts regte sich in der dunklen, stillen Nachbarschaft; kein Hund warnte kläffend vor einem Fremden, der verstohlen durch die Straße schlich. Sie konnte einfach weiterfahren, dachte sie, oder ins Haus gehen. Sie musste ins Haus. Entweder war er dort oder eben nicht. Entweder stand er hinter der großen Eiche am Rand ihres Gartens oder nicht.
Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, atmete tief durch, griff nach ihrer Tasche und stieg aus. Anders als sonst schloss sie die Autotür nicht ab, falls sie fliehen musste und es auf jede Sekunde ankam. Im gelben Licht auf der Veranda fühlte sie sich nicht geborgen, sondern bloßgestellt, während sie mit dem Schlüssel hantierte, bis sie zitternd das Schloss geöffnet hatte.
Das schäbige kleine Wohnzimmer sah aus wie sonst auch. Die Wohnung war still wie immer. Sie blieb kurz lauschend stehen, hörte aber kein verräterisches Schaben
oder Schnaufen. Nicht dass sie etwas hören würde, erkannte sie. Dafür war er zu gut. Ihr Herz klopfte so stark, dass sie auch nicht wusste, ob sie über dem Rauschen in ihren Ohren überhaupt etwas hören könnte. Ihre Brust war wie zugeschnürt, sie bekam kaum Luft. Wie noch jedes Mal reichte der bloße Gedanke an ihn aus, dass sie sich so eingeengt fühlte. Er brauchte nicht einmal anwesend zu sein, um ihr Todesangst einzujagen.
Der Schmuck lag in einem Beutel in ihrer Kommode. Sie würde nur ins Schlafzimmer gehen, ihren Schmuck holen, ein paar Sachen in ihren Koffer werfen und abhauen. In spätestens zwei Minuten war sie hier weg, und jede Sekunde, die sie hier stehen blieb, war eine, die sie sich womöglich nicht leisten konnte. Sie holte noch einmal tief Luft und marschierte in Richtung Schlafzimmer.
Eine feste Hand drückte auf ihren Mund, während ein Arm ihre Taille umschlang und sie gegen einen Oberkörper zog, der so hart war, dass der Aufprall wehtat. Sie hatte keinen Laut gehört, keinen Luftzug gespürt, absolut nichts hatte sie vorgewarnt. Er war einfach plötzlich da, hinter ihr, das Blut sackte ihr aus dem Kopf, als sie ihn flüstern hörte: »Drea.«
26
Über ihr Gehirn senkte sich ein dichter grauer Schleier, der jeden rationalen Gedanken erstickte. Sie bäumte sich auf wie ein wildes Tier, warf sich mit aller Kraft gegen ihn, versuchte ihn aus der Balance zu bringen, die fest zudrückende
Hand auf ihrem Mund abzuschütteln, damit sie nach Hilfe schreien konnte, tat alles, um ihm zu entkommen. Wild schluchzend zappelte sie, trat nach ihm, versuchte ihn zu packen, rammte die Ellbogen nach hinten und schleuderte den Kopf zurück, um ihn auf den Mund oder das Kinn zu treffen, doch keiner ihrer Versuche war irgendwie koordiniert oder geplant; jede Bewegung wurde nur von ihrem Instinkt geführt, wie die eines Kaninchens, das den Kiefern des Wolfes zu entkommen versucht. Sie konnte hören, dass er etwas sagte, aber nichts von dem, was nach ihrem Namen kam, hatte sie auch nur als Wort erkannt.
In ihrem Kopf herrschte die gleiche undurchdringliche Dunkelheit wie in der Küche. Sie
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