Süße Rache: Roman (German Edition)
Hector klammerte sich an jeden Strohhalm, sein trauriger Blick verriet, dass er sich dessen bewusst war, trotzdem fühlte er sich verpflichtet, jede mögliche Alternative zu dem, was am wahrscheinlichsten war, aufzuzeigen.
»Sie wäre ihm bestimmt nicht nachgelaufen«, sagte Armando. »Sie hat sich den Fuß vertreten, als sie ins Auto steigen wollte, danach hat sie gehumpelt. Sie hätte bestimmt keinen Dieb verfolgt. Außerdem hätte sie geschrien wie am Spieß, wenn jemand ihre Tasche geklaut hätte, und dann hätte es jeder in der Bücherei mitgekriegt.«
»Ich weiß nicht, wer sie geschnappt hat, aber er war jedenfalls auf Draht«, sagte Orlando. »Sie kommt aus der Bücherei, er legt den Arm um sie wie um eine alte Freundin, nur dass die andere Hand eine Pistole in ihre Seite drückt. Sie würde ohne einen Mucks mitgehen.«
Falls es außerhalb der Bücherei passiert war, hatten die Kameras womöglich gar nichts aufgezeichnet, dachte Rafael und erkannte gleich darauf, dass das nichts zur Sache tat. Wer Drea auch entführt hatte, würde sich schon bald melden, weil er sie bestimmt nicht ohne Grund entführt hatte. Sie zu entführen und umzubringen ergab keinen Sinn; wahrscheinlich würde der Täter schon bald anrufen und Geld oder sonst was fordern. Er überlegte fieberhaft, ob der Entführer vielleicht wusste, auf wen er den Killer angesetzt hatte, und daraus geschlossen hatte, wer hinter der ganzen Sache steckte. Das war praktisch ausgeschlossen. Und selbst wenn doch, selbst wenn Drea in
einem Racheakt getötet werden sollte, würde derjenige es ihn wissen lassen, weil ihr Tod andernfalls völlig sinnlos war.
»Das Sicherheitssystem der Bücherei können wir vergessen«, sagte er schwermütig. »Wer sie auch entführt hat, wird uns anrufen.« So oder so, ob Drea nun am Leben oder schon tot war, sie würden anrufen. Bis dahin konnten sie nur warten.
Rafael hielt es keine Sekunde länger bei seinen Männern aus. Abrupt machte er kehrt, eilte aus dem Raum und stapfte durch den Flur zu ihrem Zimmer. Er stieß die Tür auf, trat ins Zimmer und blieb stehen, als wäre er auf eine unsichtbare Mauer geprallt. Ihre Anwesenheit war so stark zu spüren, dass er sie fast greifen konnte. Der Duft ihres Parfüms hing in der Luft. Wie üblich lief der Fernseher, in dem die Moderatoren auf dem Shoppingkanal schwatzten wie aufgeregt zwitschernde Vögel. Ihr Laptop lag aufgeklappt da, weil sie ihn nie schloss; auch wenn der Bildschirm dunkel war, verriet ihm die Power-Diode, dass er im Standby war und auf einen Tastendruck hin zum Leben erwachen würde. Die Tür zu ihrem begehbaren Schrank war angelehnt, und drinnen brannte Licht, in dem ihre Kleiderhaufen zu sehen waren. Auf der Kommode lag ihr Modeschmuck verstreut.
Drea war wie eine Elster auf alles aus, was glänzte und funkelte. Sie war unordentlich, sorglos und kindlich in ihrer Begeisterung. Sie hatte es wirklich nicht verdient, unter den brutalen Händen mehrerer Männer zu sterben, denen sie nichts bedeutete.
Sein Blickfeld verschwamm, er merkte angewidert, dass ihm Tränen in den Augen standen. Weil ihn niemand so sehen durfte, trat er ganz in ihr Zimmer und warf einen Blick ins Bad, wo die Ablage des Waschbeckens mit
Schminksachen vollgestellt und die Luft mit ihrem Duft geschwängert war, dieser weiblichen Mischung aus parfümiertem Badegel, Duftkerzen, Lotions und Sprays. Drea liebte den Plunder, den alle Frauen mögen – nein, sie hatte ihn geliebt.
Auf seiner Brust lastete ein tonnenschweres Gewicht, in ihm war alles leer. Der Druck war so stark, dass er kaum noch atmen konnte, selbst sein Herz schien sich schwer und schleppend unter seinem Elend abzumühen. Noch nie hatte er so gelitten, es kam ihm vor, als würde er diese Schmerzen nie wieder los. Sie war weg. Das war nicht fair; er hatte gerade erst gemerkt, dass er sie liebte, und schon hatte er sie wieder verloren. Er nahm es ihr übel, dass sie gestern so wütend auf ihn gewesen war, dass sie ihn gezwungen hatte, sie wirklich wahrzunehmen, dass sie ihn dadurch geschwächt hatte, dass sie verschwunden war. Zum Teufel mit ihr – und zum Teufel mit ihm selbst, weil er ein solcher Idiot war.
Mitten in der Nacht wachte Drea schwer keuchend auf; sie hatte mit ihrer Decke gekämpft, als wäre sie eine Schlange, die sie zu erwürgen versuchte. Sie schoss hoch und sah sich panisch im Zimmer um. Um die Vorhänge herum sickerte gerade so viel Licht in den Raum, dass das Zimmer nicht völlig im Dunkeln
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