Sueße Verfuehrung an der Cote d'Azur
gestorben.
Verstohlen betrachtete sie Alessandro von der Seite, als er sie durch seinen menschenleeren Familiensitz führte. Immerhin hatte er es geschafft, sie von ihren Ängsten zu befreien. Seitdem sie ihn kannte, bangte sie nicht mehr darum, was andere über sie denken mochten. Er hatte sie ganz und gar mit Freude ausgefüllt. Und obwohl sie inzwischen wusste, dass auch er Schattenseiten besaß, so überwogen doch die glücklichen Erinnerungen an ihn. Natürlich war es schwer, ihm ihre Gefühle nicht allzu deutlich zu zeigen. Aber sein Gesichtsausdruck verriet, dass auch er mit sich kämpfte.
Es war schon dunkel, als sie wieder die große Eingangshalle im Erdgeschoss ereichten.
„Hier sind wir vorhin angekommen. Damit ist die Tour wohl beendet“, sagte Michelle mit Bedauern und vermied es, in die Richtung zu schauen, wo sein Arbeitsbereich lag. Dort hatte sie sich in seiner Gegenwart zweimal übergeben müssen. Jetzt noch wurde ihr heiß und kalt vor Scham.
Alessandro hatte das offenbar vergessen. Er öffnete gerade die Tür, durch die sie nicht gehen wollte. „Du musst dir noch meinen Bereich anschauen“, sagte er und ließ ihr den Vortritt.
Also betrat sie wieder den Raum, den sie vor ein paar Stunden in ihrer Not mit Missachtung gestraft hatte und den er wohl als sein Allerheiligstes empfand: sein Arbeitszimmer. Diesmal nahm sie den angenehmen Geruch von Büchern und gutem Papier wahr. Die Einrichtung war modern, aber nicht unpersönlich. Auch hier standen große Topfpflanzen, einige in voller Blütenpracht.
Lange hielten sie sich aber nicht auf, sondern betraten einen kleinen Fahrstuhl mit verspiegelten Wänden. Und schon ging es wieder hoch in das oberste Stockwerk. Als sich die Türen öffneten, empfing sie ein heller Raum voller exotischer Pflanzen, die in Töpfen zum Teil bis hoch zur Decke wuchsen. Dahinter öffnete sich ein breiter, langer Flur. Als Michelle dort eintrat, wurde sie von Gezwitscher empfangen.
„Oh, eine Voliere“, rief sie begeistert. „So etwas kenne ich nur aus dem Zoo.“ Hinter goldfarbenem Maschendraht flatterten aufgeregte tropische Vögel zwischen Blättern und Zweigen herum, als versuchten sie, sich vor der Fremden zu verstecken. Erst als Alessandro näher trat, beruhigten sie sich wieder.
„ Dio . Wenn überhaupt, dann gehören solche Käfige in einen Tiergarten.“
Sie sah ihn verwundert an.
„Mein Vater hat die Voliere einrichten lassen. Er überließ nichts dem Zufall. Alles, wonach ihm der Sinn stand, musste in unmittelbarer Nähe bereit sein. Und manchmal verspürte er eben Lust, sich Vögel anzuschauen. Eigentlich billige ich es nicht, Kreaturen einzusperren. Diese werden rund um die Uhr bestens versorgt. Ich würde sie ungern jemand anderem anvertrauen. Deshalb werden sie hier den Rest ihres Lebens verbringen. Wenn sie sterben, ersetze ich sie nicht, die armen kleinen Wesen.“
Sein mitleidiges Lächeln ließ Michelles Herz aufgehen.
„Du kannst sie dir später noch einmal ansehen, nachdem du meinen ganzen Bereich kennengelernt hast.“
Sie nahm den Geruch frischer Farbe wahr und fühlte sich plötzlich als Eindringling.
„Ich weiß nicht. Wir kennen uns doch kaum …“
„Du bist die Mutter meines Kindes, und ich habe dich heute überall als meine Verlobte vorgestellt. Außerdem möchte ich, dass du die Renovierung meiner Räume begutachtest.“
Zögernd folgte sie ihm in einen Empfangsraum. Er war in Blassgrün und Creme gehalten und wirkte vor allem durch die dunklen Teppiche, die sparsame Möblierung mit antiken Stücken und Bildern sehr edel. Rundherum waren Nischen in die Wände eingelassen, wo indirekt beleuchtete Mineralien ausgestellt waren. Michelle hätte sich gern ihre wundersamen Formen und Farben länger angeschaut, doch Alessandro schob sie durch eine große Glastür auf den Balkon.
Obwohl es schon fast dunkel war, spürte Michelle die Weite, die sich vor ihr ausbreitete. In der Ferne bewegten sich Lichter. Wahrscheinlich verlief dort irgendwo im Tal eine Straße. Hin und wieder vernahm sie den Schrei einer Eule. Er zerriss klagend die Stille der angebrochenen Nacht.
„Hier könnte ich Stunden zubringen und schauen“, bekannte Alessandro. Seit ihrem Wiedersehen hatte er nicht in diesem vertraulichen Ton gesprochen. „Wenn ich Zeit habe, mich hier oben herumzutreiben, wirkt das Anwesen meist schon verlassen. Doch manchmal werde ich für einen kurzen Moment Zeuge des Lebens, das sich hier abspielt. Jemand vom Hauspersonal oder
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