Sueße Versuchung
noch eine Karotte zwischen die Zähne und verließ sie dann, um sich näher zu pirschen, bis sie es sich hinter einigen dichten Büschen, von denen aus sie einen guten Blick auf das mit Fackeln hell beleuchtete Haus hatte, bequem machen konnte.
Sie hatte Übung im Anschleichen. Ihre Brüder und sie hatten das in ihrer Kindheit oft geübt. Es war ihnen zwar verboten gewesen, sich an die Pächter anzupirschen, aber das hatte sowohl die McIntoshs als auch die Kinder der Pächter niemals gehindert, sich gegenseitig zu beschleichen, zu erschrecken und sich Streiche zu spielen. Sie waren, zumindest die Jungen, regelmäßig von den Eltern dafür versohlt worden, und hatten es doch wieder gemacht. Aber das hier, sagte sich Sophie, war kein Spiel. Entsprechend feucht waren auch ihre Hände, und ihre Kehle war trocken, aber die unwiderstehliche Neugier und die Unternehmungslust waren stärker als alles andere.
Die Haustür stand dieses Mal sperrangelweit offen, und in ihrem Rahmen lehnte Captain Jonathan Hendricks. Zwei Männer kamen mit Fässchen beladen von der Rückseite des Hauses, vermutlich aus dem Hintereingang. Dann kam noch einer und schließlich eine ganze Gruppe, die Ballen und Kisten schleppte. Sophie sah, dass sie alles zu einem vor dem Haus stehenden Wagen brachten. Kein Wunder, dass das Gras so niedergetrampelt war.
Und da war Henry! Ihr Vetter trat hinter Hendricks aus dem Haus und ging mit gesenktem Kopf zu dem Wagen, der in der Zwischenzeit bis oben hin beladen worden war. Captain Hendricks rief ihm etwas zu, und Henry nickte nur. Er wirkte unglücklich und ein wenig verängstigt. Sophie beobachtete, wie er auf den Wagen stieg und die Zügel aufnahm. Ein Mann rannte zu ihm und sprach auf ihn ein. Dann kamen andere und legten eine Plane über das Schmuggelgut.
Sophie starrte angestrengt hinüber. Wie war ihr Vetter nur in diese Sache geraten? Sie musste herausfinden, was Jonathan Hendricks gegen Henry in der Hand hatte. Sie war entschlossen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und Henry aus den Klauen dieser Bande zu befreien.
Soeben wollte sie zurück zu Rosalind huschen, als Jonathan Hendricks die zur Haustür führende Steintreppe herabkam. Sophie duckte sich noch ein wenig tiefer in den Schatten des Busches. Hendricks winkte jemandem zu, der zu Sophies Entsetzen aus genau der Richtung auftauchte, in der sie Rosalind versteckt hatte. Hoffentlich verhielt sich das Pferd ruhig. Und hoffentlich war der Mann kein Späher gewesen, der sie beobachtet hatte. Sie hielt den Atem an, als der Mann, ein ziemlich großer, missmutig aussehender Kerl, zu Captain Hendricks hintrat und leise auf ihn einsprach, dabei sahen sie beide kurz in die Richtung, aus die er gekommen war. Captain Hendricks ließ seine Blicke über die Umgebung schweifen, und einen kurzen Moment, in dem Sophies Herz stillstand, hatte sie den Eindruck, dass er trotz der Dunkelheit direkt in ihre Augen sah.
Höchste Zeit zu verschwinden. Als sie sich umwenden wollte, hörte sie neben sich ein Geräusch. Sie hielt den Atem an, lauschte und starrte mit weit aufgerissenen Augen um sich. Ihr Herz raste, dröhnte in ihren Ohren, dass sie schon fürchtete, man könnte den Schlag bis zum Haus hinüber hören. Oben im Baum regte sich etwas. Dann raschelten die Blätter, und sie sah zwei große Flügel, die sich ausbreiteten und durch die Lüfte davonrauschten. Sophie duckte sich erschrocken, atmete dann aber tief und erleichtert durch. Eine Eule.
Als der Wagen mit Henry scheppernd abfuhr, nutzte Sophie die Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Sie schlich gebückt wieder zurück, blickte sich um, ob sie auch nicht verfolgt wurde, und lief dann erst aufrecht weiter, als sie sah, dass man sie vom Haus aus nicht mehr sehen konnte, vermied jedoch den Weg und hielt sich zwischen den Büschen. Als Sophie Rosalind unversehrt an derselben Stelle wiederfand, wo sie ihre Stute angebunden hatte, fiel ihr ein Stein vom Herzen, und jetzt erst wurde ihr klar, in welcher Gefahr sie sich befunden hatte, und wie dumm dieses Anschleichen gewesen war. Die Männer hätten kurzen Prozess mit ihr gemacht, und Henry hätte ihr vor lauter Angst bestimmt nicht geholfen. Ihre Knie begannen zu zittern. Es war höchste Zeit zu verschwinden.
Sophie wollte nach dem Zügel greifen und sich in den Sattel schwingen, als sie von zwei kräftigen Händen gepackt und von Rosalind weggezerrt wurde. Ihr erschrockener Aufschrei wurde von einer Hand erstickt, die sich über ihren Mund legte. Ein
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