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Süßer König Jesus (German Edition)

Süßer König Jesus (German Edition)

Titel: Süßer König Jesus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Miller
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saß eine traurig aussehende Frau, die sich ein Tigergesicht geschminkt hatte. Auf ihrem Schild stand, Kleines Design $4 Ganzes Gesicht $9 . Sie hatte einen Jungs-Haarschnitt und war normal gekleidet. Ich überlegte: Warum malte sich eine ein Tigergesicht, fuhr die ganze Strecke hier raus, setzte sich an einen Spieltisch und sah so mitleiderregend aus, dass keiner sich in ihre Nähe wagte?
    »Vielleicht sollten wir unsere Gesichter bemalen lassen«, sagte ich und nickte der Frau zu. »Oder einfach mal hingehen und mit ihr reden. Ihr Interesse wecken.«
    »Sie ist so traurig«, sagte Elise.
    »Ich weiß. Das macht mich traurig.«
    »Frag bloß nicht, ob sie schon errettet ist.«
    »Keine Angst«, sage ich. »Ich frage niemanden mehr.«
    »Seit wann das denn?«
    »Seit jetzt eben«, sagte ich.
    Die Frau drehte langsam ihren Kopf in meine Richtung, so langsam, dass mir Zeit genug blieb, zurück zu der Zeichnung mit den zwei Mädchen zu schauen, ohne dass sie es bemerkte. In Wirklichkeit war das eine Mädchen fett und das andere mager. Auf der Zeichnung waren beide gleich. Aber die Magere hatte sexy Augen mit langen Wimpern.
    Unsere Mutter und unser Vater schoben sich vorbei. Unser Vater war immer noch mit seinem Truthahnschenkel beschäftigt, und unsere Mutter lächelte und schaute begeistert in die Runde.
    Elise näherte sich der Tiger-Frau, die sie erst zur Kenntnis nahm, als Elise sich ihr gegenüber auf den blauen Plastikstuhl setzte.
    »Zweimal das ganze Gesicht«, sagte Elise.
    »Ich dachte, das kleinere«, sagte ich.
    »Das ganze Gesicht. Was können Sie noch außer Tiger?«
    »Zebras, Löwen …«, sagte die Frau.
    »Mir ist heute nicht nach Safari-Tieren«, unterbrach Elise.
    »Elfe, Meerjungfrau, Schlumpf, Kuh, Schlange, Schimpanse«, fuhr die Frau fort.
    Sie einigten sich auf eine Schlange, weit offenstehendes Maul, darüber ein Auge.
    »Siehst du«, sagte ich, »du stehst auf Schlangen.«
    Ihre Schlange war scheußlich. Es war eine Korallenschlange oder eine, die aussah wie eine Korallenschlange, allerdings ungiftig. Als sie fertig war, hielt die Frau einen Spiegel hoch, und Elise sagte, es sei toll.
    »Ich will den Tiger«, sagte ich und setzte mich auf den von Elise angewärmten Stuhl. Die Frau sah mich ausdruckslos an, sie schien sich überhaupt nicht zu freuen, wie ich erwartet hatte, sie kramte in ihren Farben.
    Ihre Finger fühlten sich kühl an, wie Papier. Sie waren mir angenehm auf der Wange.
    »Wie lange machen Sie das schon?«, fragte ich.
    »Ziemlich lange«, sagte sie.
    »Haben Sie viele Aufträge?«
    »Manchmal«, sagte sie. »Die letzte Zeit war eher flau.«
    »Die Rezession«, sagte ich, als wüsste ich, wovon ich redete. Seit Jahren hörte ich alle von dieser Rezession sprechen. Wahrscheinlich war ich schon in eine Rezession hineingeboren worden.
    Irgendetwas an dieser Gesichtsmalerin tat mir weh. Ein bisschen fühlte es sich an wie Liebe, obwohl ich ja mit Liebe noch nie wirklich zu tun gehabt hatte und also dazu gar nicht viel sagen konnte. Ich war gespannt, ob es sich immer so schmerzlich anfühlen würde.
    Elise schlenderte weiter, und ich beobachtete, wie die Männer sich um sie scharten.
    »Wohnen Sie in der Nähe?«, fragte ich.
    »Nicht weit. Ein paar Meilen von hier.«
    Sie trug keinen Ring am Finger. Ich konnte fast immer vorhersagen, wer einen Ring am Finger trug. Normalerweise waren sie jung und hübsch und hatten eine positive Einstellung. So eine Frau würde ich, wenn ich eine Frau heiraten müsste, auch gern heiraten. Die zerren einen morgens aus dem Bett, und auch wenn man krank oder traurig ist oder wenn es regnet, sagen sie »So ein schöner Tag!«, und schon steht man auf, tatendurstig und gut gelaunt. Sie kochen mittags, sie kochen abends und sie beziehen das Bett frisch.
    Ich konzentrierte mich auf ihre Fingerspitzen, die mir in die Wangen drückten. Einfach spüren. Es gibt nur Jetzt , redete ich mir ein, um präsent zu sein, und das hielt mich davon ab, präsent zu sein. Ich hätte ihre Finger gern für immer in meinem Gesicht gespürt oder wenigstens für längere Zeit.
    Sie gab mir den Spiegel, ich zögerte einen Moment, und schon wusste sie, dass, was auch immer ich nun sagen würde, nicht die Wahrheit war. Ich sagte: »Ich bin begeistert.« Und verspürte sofort den dringenden Wunsch, es abzuwaschen. Ich bezahlte, nahm mein Handy und fotografierte sie neben ihrem Schild.
    »Du hast nicht gefragt, ob du ein Foto machen darfst«, sagte Elise. »Vielleicht wollte sie

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