Süßer König Jesus (German Edition)
nicht vergleichbar – die Berge in Texas waren sechsmal so hoch.
Wir kamen durch mehrere Kleinstädte, sogar durch eine echte Geisterstadt. Sanderson – bei weitem der trostloseste Ort, den ich je gesehen hatte: Staub und Starkstromleitungen und Werbung für Propangas, ein Restaurant: Kountry Kitchen. Ein paar zwei- und dreistöckige Gebäude direkt am Highway, Gebäude, in denen eine Menge Leute untergebracht werden könnten, doch keines von ihnen schien bewohnt zu sein, und auf den Parkplätzen standen kaum Autos. Elise begann mit ihrem Handy zu filmen. Sie versuchte, unseren Vater zum Anhalten zu überreden, sie wollte ein bisschen herumlaufen, aber er sagte, wir seien bereits spät dran, später, als unser Plan vorschreibe.
»Welcher Plan?«, fragte sie.
»Na unser Plan«, sagte ich. »Kalifornien.«
»Ich weiß immer noch nicht genau , warum wir da hinfahren«, sagte Elise. »Warum noch mal?«
»Du weißt warum«, sagte ich und sah sie an.
»Hilf mir.«
»Weil Marshall dort ist«, sagte ich.
»Aber wir treffen ihn doch gar nicht.«
»Vielleicht schon«, sagte ich.
»Das ist nicht der Grund, warum wir nach Kalifornien fahren«, sagte unser Vater.
»Warum dann?«, fragte Elise.
»Weil es in der Pazifischen Zeitzone liegt«, sagte ich.
»Dich hab ich nicht gefragt. Ich habe Dad gefragt.«
»Wir bereiten uns vor«, sagte ich.
»Halt die Klappe, Jessica«, sagte sie.
Keiner sagte Jessica zu mir. Es klang überhaupt nicht gut, fand ich. Viel zu viele Silben. »Dad?«
»Wir machen eine Pilgerreise«, sagte er ruhig, doch seine Ohren und sein Hals waren rot, und er zitterte leicht.
Ich beobachtete, wie seine normale Hautfarbe zurückkehrte, wie er blass und blasser wurde, und dachte daran, wie er uns die Reise zum ersten Mal verklickert hatte. Wir saßen zu Hause am Tisch – unsere Mutter hatte Fleischklößchen gemacht und unser Vater das Maisbrot –, als er davon anfing: Eine Pilgerreise am 10. Juli. Eine Karawane bräuchten wir nicht. Wir wären unsere eigene Karawane. Und hatten wir nicht schon immer Amerika kennenlernen wollen? Ja, klar doch, sagten wir, auch wenn ich diesen Wunsch nie geäußert hatte. Als Kind wollte ich Disney World sehen, und einmal, nachdem ich eine Sendung über die Mammut-Höhlen gesehen hatte, natürlich ein paar Höhlen, aber jedes Jahr fuhren wir nach Destin in Florida, weil eine Schwester meiner Mutter dort eine Eigentumswohnung hatte.
Da die Reise erst in über einem Monat stattfinden sollte, stimmte ich sofort zu. Zustimmen war einfach, wenn in dem Moment oder im nächsten nichts von mir erwartet wurde. Später bereute ich natürlich, ich hätte gleich ablehnen sollen, einmal zugestimmt, war es viel schwieriger, aus der Sache wieder rauszukommen, doch in dem Moment war mir das einfach nicht möglich gewesen. Wenn mein Vater nach Kalifornien wollte, dann gab es keine Widerrede. Er wollte eine Pilgerreise machen, und wir wären seine Pilger. Unsere Mutter schwelgte in Erinnerungen an eine Rundreise, die sie in ihrer Kindheit unternommen hatte. Ich hatte die Geschichte oft genug gehört, in ihrem Zentrum standen ein Toilettenbesuch, bei dem ihr Vater alle blamiert hatte, und die Yellowstone-Geysire. Es war, als hätte meine Mutter keinerlei Erinnerung daran, es war, als hätte sie Fotos gemacht und als wäre es völlig unnötig, sich an das, was tatsächlich stattgefunden hatte, zu erinnern. Einzig Elise hatte sich gewehrt, sie sagte, sie müsse zum Cheerleader-Training, eventuell müsse sie sogar einen Kurs wiederholen. Als das meinen Vater nicht überzeugte, sagte sie, die Letzten werden die Ersten sein und die Ersten werden die Letzten sein . Aber das schien seine Argumentation nur noch zu stützen. Er sagte, wir würden warten, bis wir dran wären.
Ich sah zum Fenster hinaus. Kein Gras, keine Bäume. Mein Vater fuhr immer schneller. Das Land so öde, dass man sich leicht vorstellen konnte, die Welt sei bereits untergegangen und wir hätten nur noch nicht davon gehört.
***
»Das sind die Bezirke mit der geringsten Bevölkerungsdichte im ganzen Land«, unterbrach unser Vater die Stille.
Elises Handy summte, und sie lächelte es an. Dann lehnte sie sich zu mir und sagte: »Dan hat sein Handy in den See fallen lassen. Er musste sich ein neues besorgen.«
»Ich hab’s dir gesagt«, sagte ich, auch wenn das nicht erklärte, warum er ihr nicht eine E-Mail geschickt oder sich ein Handy geborgt hatte, um sie zu kontaktieren. Alle seine Freunde hatten ihre
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