Süßer Mond - Süßer Mond - Dark Guardian - 01 Moonlight
empfindest. Wenn du verstehst, was ich meine. Wir spüren dieses ursprüngliche, starke Verlangen, weil wir auf einem feinen Grat zwischen Mensch und Tier wandern, aber in unserem Innersten sind wir menschlich. Wir haben nur die Fähigkeit, in eine andere Daseinsform überzugehen.«
»Du sagst das, als wäre es das Normalste von der Welt.« »Solange ich denken kann, habe ich Leute von einer Form in die andere wechseln sehen, so locker, als würden sie mit der Fernbedienung durch die Kanäle zappen.«
»Und wer hat dich gecoacht?«
»Männer müssen allein da durch.«
»Ist es dadurch nicht schmerzhafter?«
»Klingt nicht gerade fair. Aber es ist eine Form der natürlichen Auslese. Die Schwächeren überleben nicht.«
»Hattest du Angst?«
»Ich konnte es kaum erwarten, aber ich wusste ja, was auf mich zukam. Als ich ein kleiner Junge war, nahmen meine Eltern mich mit in den Wald, erklärten mir einiges und zeigten mir …«
»Oh, mein Gott!« Ich wandte hastig den Blick ab.
Er setzte sich gerade hin. »Was hast du? Was ist los?«
»Meine Eltern … Diese Jäger haben behauptet, sie hätten Wölfe gesehen.« Ich presste mir die Hände vors Gesicht. »Und wenn meine Eltern es mir zeigen wollten? Wir sind gerannt. Mom hat mich hinter einen Busch geschoben. Ich hörte ein Knurren.« Ich hatte die Bilder unterdrückt. »Da waren Wölfe«, sagte ich mit einem Gefühl der Gewissheit, das ich nie zuvor verspürt hatte.
Ich senkte die Hände und erwiderte Lucas’ Blick. Ich wusste, welche Erschütterung er in meinen Augen erkennen würde. »Die Wölfe. Hätten sie meine Eltern sein können?«
»Könnte gut sein, dass sie es waren.«
Nur wenn ich ihm abkaufte, dass ich auch ein Werwolf sein sollte. Ich hatte große Schwierigkeiten, das zu akzeptieren.
»Wenn man in Wolfsform stirbt, was passiert dann?«, fragte ich.
»Unsere Spezies nimmt immer kurz vor Eintritt des Todes wieder die menschliche Form an.«
»Dann könnten die Jäger die Wahrheit gesagt haben, als sie behaupteten, sie hätten Wölfe erschossen?«
Lucas nickte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, meine Eltern waren nicht nackt. Und wären ihre Wunden nicht geheilt, wenn auf sie geschossen wurde?«
»Nicht, wenn sie ins Herz oder in den Kopf getroffen wurden.«
»Aber dann wären sie doch nackt gewesen«, sann ich nach. Und sie waren nicht nackt. Zumindest nicht in meiner Erinnerung.
Im letzten Sommer hatte ich nicht in den Teil des Waldes gehen wollen, wo sie gestorben waren. Plötzlich wurde mir klar, dass ich an den Ort zurückkehren musste, um mich meinen vergangenen und gegenwärtigen Ängsten zu stellen. Ich hatte jedoch keine Ahnung, wie ich herausfinden sollte, wo es geschehen war.
Einige Stunden später schlich ich nervös und aufgekratzt in der Höhle herum. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich so aufgewühlt war. Oder vielleicht wollte ich den Grund nicht wahrhaben. Nach dem Nachmittag mit Lucas hier in diesem abgeschiedenen Refugium war ich mir seiner noch stärker bewusst. Ich dachte, ich könnte den Geruch seiner Haut wahrnehmen. Es würde in dieser Nacht noch schwieriger sein, neben ihm zu liegen und ihn nur in den Armen zu halten und von ihm umarmt zu werden.
Ich ging an den Rand der Höhle, schloss die Augen und hörte auf das Tosen des Wasserfalls. Ich wollte alle Gedanken aus meinem Kopf löschen. Aber einer ließ sich nicht verscheuchen: Wenn ich mich morgen Nacht nicht verwandelte, würde ich ihn dann verlieren?
Trotz des ohrenbetäubenden Wasserfalls und meiner geschlossenen
Augen spürte ich es sofort, als er hinter mich trat.
»Kayla?«
Ich liebte seine tiefe Stimme und den Klang meines Namens, wenn er ihn aussprach. Ich drehte mich um.
»Nichts zwischen uns hat sich verändert«, sagte er.
»Alles hat sich verändert. Ich kenne dich jetzt besser. Als hätte ich einen Crashkurs über Lucas Wilde absolviert. Ich fühle Dinge, die ich nie zuvor gefühlt habe.«
»Sind es schöne Gefühle?«
»Beängstigende Gefühle. Intensive Gefühle. Was ist, wenn ich nicht so bin, wie du glaubst?«
»Du meinst, dass du nicht tapfer bist?«
Ich lachte unsicher und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht, was …«
»Du meinst, du hast keine innere Kraft? Bist nicht mutig? Du wirst dich verändern, Kayla. Aber ich empfinde nicht so stark für dich, weil du dich ändern wirst - sondern wegen all der Dinge, die sich nicht verändern werden.«
»Oh.« Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Seine Worte kamen
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