Sueßer Schmerz
Unzählige Male war sie versucht gewesen, ihn wieder zu treffen. Doch jedes Mal redete sie es sich wieder aus. Die Angst zurückgewiesen zu werden, hielt sie fest im Griff. Stattdessen schwelgte sie in Selbstmitleid und »Was wäre wenn«-Gedanken. Doch je mehr Zeit verstrich, desto unangemessener schien es ihr, sich bei ihm zu melden.
Kelly saß an ihrem Schreibtisch und war dankbar, dass zumindest Freitag war. Obwohl er nicht ganz so verlaufen war wie geplant. Sie war früh zur Arbeit gekommen, um ihren Papierkram zu erledigen und dann sofort Feierabend zu machen, nachdem ihr letzter Patient gegangen war. Normalerweise war das um die Mittagszeit herum.
Doch nicht so heute, an einem Tag, an dem sie allein sein und sich in ihren Studienunterlagen vergraben wollte. Ein Tag, den sie brauchte, um sich daran zu erinnern, warum sie sich von der Welt isoliert hatte. An dem es ihr gut tun würde, an der Vollendung ihres Traums zu arbeiten.
Aber nein. Obwohl sie freitags eigentlich nur bis zwölf Uhr geöffnet hatten, hatte man ihr einen Zwei-Uhr-Termin mit einem neuen Patienten gegeben.
Ein Stöhnen riss sie aus ihren selbstmitleidigen Gedanken. Kelly zog die Brauen zusammen. Sie hörte eine männliche Stimme. Es klang wie José. »Höher. Oh ja.«
Was zum Teufel war da los?
Kelly stand auf und folgte dem Geräusch. Es schien von der anderen Seite des Gymnastikraums zu kommen. Dort lagen die Untersuchungszimmer, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sich keine Patienten mehr im Gebäude aufhielten.
»Fester. Oh ja. Und jetzt hoch und runter.«
Kelly war nun nahe genug bei der Stimme, um Josés unverkennbaren Akzent zu identifizieren.
Die Tür zu einem der Untersuchungsräume stand einen Spalt auf, und sie konnte bruchstückhaft Bewegungen sehen. Kelly schlich sich langsam an die Tür heran und erwartete, ihren Verdacht bestätigt zu sehen – dass dort, in diesem Büro, jemand Sex hatte.
Es war kaum vorstellbar. Außer in ihren Träumen. Bei dem Gedanken wurde ihr leicht übel. Vielleicht war sie einfach nur prüde. Vielleicht taten andere Menschen solche Dinge auch in wachem Zustand.
Schließlich hatte sie es mit einem Fremden getan. In ihrem Wagen. Unvorstellbar, was erst jemand tat, der weniger konservativ war als sie. Sie schob den Gedanken beiseite.
Nein.
Sie konnte nicht glauben, dass José Sex im Untersuchungszimmer hatte. Sicher nicht. José war zwar vieles, aber dumm war er nicht. Faul, arrogant und eine Nervensäge, aber nicht dumm.
Wenn der Arzt ihn dabei erwischte, dass er Sex in der Praxis hatte, würde er ihn feuern.
Eine atemlose weibliche Stimme wehte herüber. »Ich kann nicht mehr.«
Kelly erstarrte.
Oh mein Gott
. Nein, das konnte doch nicht sein.
»Nur noch ein bisschen, Jennifer«, sagte José drängend.
Nein, nicht Jennifer.
Schritte hallten über den Flur. Kelly hörte den unverkennbaren Gang der tyrannischen Frau des Arztes. Ihre schweren Schritte klangen wie die eines Oberfeldwebels, stets war sie auf Ärger aus. Kelly wusste, dass sie handeln musste. Sie erlaubte sich nicht, sich davonzustehlen, sondern stieß die Tür zum Untersuchungsraum auf, schoss hinein und schloss sie hinter sich. »Zieht euch an. Wir bekommen Besuch.« Schwer atmend, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, starrte sie auf das Bild, das sich ihr bot.
»Was ist los, zum Teufel?«, platzte José heraus. Er lag mit nacktem Oberkörper auf dem Bauch, trug jedoch seine Hose. Er stützte sich auf die Hände und starrte sie verwirrt und verärgert an.
Jennifer stand komplett bekleidet neben ihm und stieß den Ellenbogen in seinen Rücken. Sie ließ die Arme sinken. »Das war’s. Ich bin fertig. Keine Gratis-Massage mehr.«
»He«, sagte José und setzte sich auf. »Du schuldest mir was. Schließlich habe ich letzte Woche dein Auto überbrückt, als du das Licht angelassen hattest. Weißt du noch?«
Kelly blinzelte. »Was ist hier los?«
Jennifer verdrehte die Augen und rieb sich den Ellenbogen. »Er ist unmöglich zufriedenzustellen.«
»Habt ihr zwei … äh …« Sie konnte nicht fragen, ob sie miteinander schliefen, stattdessen fragte sie gepresst: »Seid ihr zusammen?«
Jennifer lachte und warf José einen gemeinen Blick zu. »Nicht um alles in der Welt.«
Kelly blickte vom einen zum anderen. »Du meinst, das ist kein …«
José lachte. »… Vorspiel?«
Kelly wusste nicht, was sie sagen sollte. »Ich dachte …«
Jennifer machte ein angewidertes Geräusch. »Ich muss hier raus. Ich habe heute
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