Süßer Tod
sie reagieren würde. Er konnte seinen Groll ewig nähren, das wusste sie. Aber hätte er sich mit physischer Gewalt rächen wollen, hätte er ihr nicht die Hände losgebunden. Seine Miene verriet nichts. Wenigstens soweit sie erkennen konnte. Schwer zu sagen, was der Bart alles verbarg.
Um die Lage auszuloten, sagte sie: »Die Süßkartoffelranke macht das Zimmer wirklich gemütlich.«
Er sah sie sekundenlang an und nickte dann zur Küchenzeile hin. »Kaffeebecher stehen im Schrank rechts.«
Der Sisalteppich, der den Boden im Wohnbereich bedeckte, endete im Küchenbereich auf blankem PVC. Es fühlte sich kühl unter ihren nackten Füßen an. Sie nahm einen Becher aus dem
Schrank über der fleckigen Resopaltheke und schenkte sich Kaffee ein. Er schmeckte so stark, wie er aussah, aber er war gut.
»Ich glaube, irgendwo steht auch noch Süßstoff.«
Sie schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte gern Milch, wenn Sie welche hier haben.«
»Im Kühlschrank.«
Nachdem sie Milch in ihren Kaffee geschüttet hatte, setzte sie sich auf einen der Stühle an dem kleinen Holztisch und begann, das klebrige silberne Verpackungsband von ihren Handgelenken zu schälen.
Er sah ihr zu und sagte nach einer Weile: »Falls Sie sich dann besser fühlen: Bei mir hatten sich haufenweise Haare verfangen. Es hat höllisch wehgetan, das wieder abzuziehen.«
Sie schenkte ihm ein sarkastisches Lächeln. »Da fühle ich mich tatsächlich gleich viel besser.« Als sie alles abgezupft hatte, knüllte sie die Bandreste zu zwei festen Kugeln zusammen. Er streckte ihr die Hand hin, und sie legte die Kugeln hinein. Dann warf er sie in den Mülleimer.
»Wie geht’s Ihrem Kopf?«
»Ich habe immer noch eine Riesenbeule. Und meine Haarwurzeln tun mir weh.«
»So was kann passieren, wenn man als Entführungsopfer nicht kooperiert.« Sie schoss einen vernichtenden Blick auf ihn ab. Ungerührt ergänzte er: »Ich musste Ihnen deutlich machen, dass es mir ernst ist.«
Das war nicht gerade eine Entschuldigung, aber mehr konnte sie wohl nicht erwarten. »Wenigstens habe ich es Ihnen heimgezahlt.« Sie deutete auf den Kratzer an seiner Wange knapp über dem Bart.
»Wirklich heimgezahlt hätten Sie es mir, wenn Ihr Knie meine Eier erwischt hätte.« Er drehte sich um und zog den Kühlschrank auf. »Ich nehme an, Sie sind hungrig.«
»Gestern Abend noch ein gnadenloser Ganove und heute früh ein generöser Gastgeber?«
Er drehte am Gasherd eine Flamme an, setzte eine Pfanne darauf und begann sie mit Speckstreifen zu belegen.
»Mr Gannon? Raley?« , hakte sie nach, als er nicht antwortete. Er sah sie über die Schulter an. »Warum haben Sie das Band abgemacht? Warum bin ich plötzlich frei?«
»Haben Sie nicht gehört, was ich gestern Abend gesagt habe?«
»Dass Sie mir glauben, weil Ihnen das Gleiche passiert ist?«
»Darum ist das Klebeband nicht länger nötig.«
»Sie hätten mir das auch am Telefon sagen können oder auf eine andere zivilisierte Weise. Warum mussten Sie mich gestern Abend so viel Angst und Schrecken ausstehen lassen?«
»Gemeinheit. Vergeltung.«
»Sie geben das also zu?«
»Das war zum Teil der Grund, ja. Aber Angst und Schrecken wirken auch höchst motivierend. Ich musste mich überzeugen, dass das mit dem Gedächtnisverlust nicht gelogen war.«
»Haben Sie sich überzeugt?«
»Wenn nicht, wären Ihre Hände und Füße immer noch gefesselt.«
Sie ließ sich das durch den Kopf gehen, während der Speck in der Pfanne brutzelte und er das Rührei verquirlte. »Warum haben Sie mich nicht schon gestern Abend gehen lassen, wenn Sie mir geglaubt haben?«
»Wenn ich das getan hätte, hätten Sie es so eilig gehabt, zu Ihrem Sender zurückzurasen und Ihre Story auszustrahlen, dass Sie mitten in der Nacht aus der Hütte gerannt wären, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, wo Sie hier sind und wie Sie von hier wegkommen. Sie hätten sich kopfüber in die Wildnis gestürzt.
Ich hätte Sie verfolgen müssen, damit Ihnen nichts passiert und Sie sich nicht auf Nimmerwiedersehen verirren. Es war ein langer Tag für mich, ich war müde, ich wollte ins Bett. Ich wollte nicht mal mit Ihnen darüber streiten. Darum hielt ich es für das Einfachste, Sie festzubinden, damit Sie nicht abhauen können.«
Insgeheim musste sie ihm zugestehen, dass sie genau das getan hätte, wenn sie die Möglichkeit dazu gehabt hätte. »Und was soll mich davon abhalten, jetzt loszurennen?«
»Sie bleiben bestimmt hier.« Er hatte den Speck aus
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