Sumerki - Daemmerung Roman
ziemlich dilettantisch von Hand gezeichnet war. Es war eine hässliche Figur mit langer Nase, die mit ausgestreckten Beinen dasaß und sich mit einer Hand aufstützte. Die andere war nach vorne gestreckt und zeigte mit der Fläche nach oben. Am Hals der Figur
hing eine Kette mit einem daran befestigten Talisman. Unter dem Bild war die Aufschrift Chaac zu lesen. Dieses Wort konnte ich in keinem der Wörterbücher finden, weder in jener Nacht noch am nächsten Tag, als ich den Text in der Bibliothek redigierte und Korrektur las.
Als alles fertig war, ergänzte ich meine Übersetzung mit einer wenig überzeugenden Kopie der Zeichnung, versah diese sozusagen zur Rechtfertigung mit der Bezeichnung »Abb. 1« und ließ den Titel unübersetzt. Dann legte ich die Blätter des Originals ordentlich in die Mappe zurück und warf noch einmal einen Blick auf die Zeichnung, bevor ich sie schloss. Der Gnom auf dem Bild grinste triumphierend. Eilig ließ ich das Messingschloss zuschnappen und begann mich anzuziehen.
Auf meinem Tisch lagen zwei identische Papierstapel: die getippte Endfassung meiner Übersetzung des zweiten Kapitels aus einem Buch, dessen Titel ich noch nicht kannte, und daneben ein Durchschlag. Einer der Stapel verschwand zusammen mit der Ledermappe in einer Tüte. In meinem Vertrag stand nirgends etwas davon, dass ich keine Kopie behalten durfte.
LA TAREA
S owohl an diesem als auch am nächsten Tag trommelte der Regen gegen die Fensterscheiben und peitschte gegen meinen Regenmantel, als ich ins Übersetzungsbüro zurückging, in der Hoffnung, man würde mir dort ein neues Kapitel des Buches aushändigen. Sobald ich die Mappe mit meiner Übersetzung eingereicht hatte, erhielt ich unverzüglich mein Honorar - die komplette Summe. Als ich mich jedoch nach dem nächsten Teil des Auftrags erkundigte, schüttelte der Büroangestellte den Kopf.
»Bislang nichts. Aber ich hätte hier ein paar Verträge über Pralinen- und Zigarrenlieferungen.«
Er zog mehrere Klarsichthüllen mit weißen, bedruckten DIN-A4-Seiten aus einer Schublade und blickte mich schräg an. Offenbar erwartete er, dass ich wie gewohnt vor Dankbarkeit zerfloss.
»Verträge? Ach so …« Ich riss mich zusammen, murmelte ein »Danke« und nahm die Unterlagen an mich. Offenbar war die Enttäuschung meiner Stimme deutlich anzumerken, denn mein Gegenüber wies mich kühl zurecht:
»Aufträge zum dreifachen Honorar gibt’s nun mal nicht am Fließband.«
»Natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich war nur in Gedanken.« Ich war bemüht, meine Erwiderung schuldbewusst klingen zu lassen. In Wahrheit aber überlegte ich bereits, dass diese Verträge eine gute Rechtfertigung wären, nach ein
paar Tagen erneut vorbeizukommen und mich zu erkundigen, ob das dritte Kapitel vielleicht schon eingetroffen sei.
»Apropos«, fuhr der Mann fort, und seine Stimme kam mir etwas menschlicher vor. »Was war denn nun in der Mappe? Nachdem Sie weg waren, bin ich doch neugierig geworden.«
»In der Mappe?« Endlich hatte ich mich wieder in der Gewalt und rang mich zu einem Lächeln durch. »Sie hatten Recht: nichts als Archivdokumente.«
»Ja, ja, natürlich«, nickte der Bürohengst. Ich war bereits auf dem Weg nach draußen, da rief er mir unschlüssig hinterher: »Wissen Sie was? Unser ›Spanier‹ hat immer noch nicht abgeliefert. Und ans Telefon geht er auch nicht.«
Ich murmelte etwas Unverfängliches, rannte die Treppe hinunter und flog hinaus auf die Straße. In mir sah es aus wie in einem kleinen Jungen, dem man zu Neujahr ein Feuerwehrauto mit Blaulicht und Sirene versprochen hat - und der nun vor einer mickrigen Packung Knete sitzt.
Ich wusste nicht einmal, ob eine Fortsetzung der Geschichte überhaupt existierte, und wenn ja, ob ihr Besitzer sie derselben Agentur anvertrauen würde, zumal diese offenbar ein Kapitel des Schatzes einem unachtsamen und unzuverlässigen Übersetzer übergeben hatte. Wäre ich an seiner Stelle, ich würde keinen Fuß mehr in dieses Büro setzen. Es galt also, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die Arbeit an dem Buch zwar ungewöhnlich interessant gewesen war, doch das Leben auch ohne sie weitergehen würde. Und wenn mich die Welt der Indianer, die Maya und die Expeditionsberichte der Konquistadoren so faszinierten,
warum kaufte ich mir dann nicht einfach ein paar historische Abhandlungen über Cortés oder eine Chronik der Ureinwohner Südamerikas?
Zu meiner Verwunderung musste ich feststellen, dass in keinem einzigen
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