Sumerki - Daemmerung Roman
Lärm erwachte und glaubte, die Tiere wären von Menschen aufgeschreckt worden, und daher erneut zu rufen und auf Spanisch sowie in der örtlichen Mundart zu fragen begann, ob jemand in der Nähe sei. Dass meine Kräfte und meine Stimme jedoch nur für zwei laute Schreie ausreichten, woraufhin ich erneut heiser ward und nur noch flüsternd um Hilfe bitten konnte.
Dass ich nach kurzer Zeit weit oben die Flamme einer Kerze gewahrte und mir das von ihr beleuchtete Gesicht wie das eines weißen Mannes vorkam. Dass dieser Mensch lange in die Tiefe des Brunnens starrte, jedoch ohne mich zu erblicken. Dass ich, meiner Stimme beraubt, nicht wusste, wie ich seine Aufmerksamkeit erregen und um Hilfe rufen konnte. Dass ich sodann mit den Armen zu winken und auf meinem gesunden Bein im Brunnen hin und her zu springen begann,
obwohl mein zweites Bein bei all diesen Bewegungen unerträglich schmerzte.
Dass meine Bemühungen am Ende Wirkung zeigten und mich der Mann bemerkte, da er die Kerze zu bewegen begann, um mich besser zu erkennen; woraufhin er erneut verschwand, zu meiner äußersten Verzweiflung und Enttäuschung, und sich nicht mehr zeigte.
Dass ich den Rest der Nacht in Gebeten und Gedanken über das Geschehene verbrachte und zu dem Schluss gelangte, dass das Gesicht, das ich erblickt hatte, keinem Menschen gehört hatte, sondern ein Zeichen Gottes gewesen war, mir gesandt, damit ich von meinem sündigen Vorhaben abließ und wieder Mut fasste, um zu kämpfen.
Dass ich ebenso handelte; wofür mir meine baldige Erlösung geschenkt wurde.«
Ich las noch einmal die Zeilen, in denen der gefangene Konquistador die nächtliche Erscheinung beschrieb. Da hörte er durch den trüben Schleier des Halbschlafs das Schreien der Brüllaffen; mit blutig gekratzten Fingern zog er sich an den Vorsprüngen der Steinmauer in die Höhe. Was hatte er gerufen? »Ist da jemand?«
»Hay alguien aquí?!«
Waren dies nicht die Worte gewesen, die ich in der Silvesternacht von meiner Küche aus gehört hatte? Und, mein Gott, war nicht er es gewesen, den ich in meinem Spiegel erblickt hatte, auf dem Grund des Opferbrunnens, stimmlos, verletzt, erschöpft, doch noch immer am Leben - nur wenige Minuten nachdem ich mich von ihm losgesagt, auf sein Grab ein grob geschnitztes Soldatenkreuz gestellt hatte?
War es denkbar, dass die Laune einer unbekannten Macht das Massiv der Jahrhunderte zwischen uns hatte schmelzen lassen, bis es Licht und Schall hindurchließ? Vielleicht hatte es sich in eine Art Membran verwandelt, durch die ich dem unglücklichen Spanier womöglich eine helfende Hand hätte reichen können, wäre ich nicht zurückgeschreckt und hätte mich nicht Nabattschikows nächtlicher Anruf in die Wirklichkeit zurückgeholt?
Welche Ironie lag darin, dass ausgerechnet ich, der ich den Glauben an die Rettung meines Konquistadoren verloren, ja nicht einmal die Bedeutung und den Sinn jener unmöglichen Begegnung richtig begriffen hatte, ihm Hoffnung eingeflößt hatte und dass mein angstverzerrtes Gesicht ihm wie ein höheres Zeichen erschienen war! Dabei hatte dieses Zeichen - den Kampf nicht aufzugeben, nicht auf halbem Wege umzukehren - nicht nur ihm, sondern vor allem mir gegolten. Ich aber hatte es als dämonischen Streich aufgefasst und den Spiegel sogar noch mit einem Laken verhängt, damit er mich nicht mehr verrückt machte. Versager! Idiot!
Nichtsdestotrotz schien der Konquistador mir unbedingt die Geschichte von seiner wundersamen Befreiung zu Ende erzählen zu wollen …
»Dass ich nach vier Tagen und vier Nächten plötzlich menschliche Stimmen hörte, doch, entkräftet und nahezu besinnungslos, mich nicht erheben und sie herbeirufen konnte.
Dass die Stimmen jedoch immer lauter wurden, und ich hörte, wie man mich beim Namen rief und mir jemand sodann Wasser übers Gesicht goss, wodurch ich wieder zu Bewusstsein kam. Dass ich oben
am Rande des Brunnens unseren Wegführer Juan Nachi Cocom erblickte und einige andere Indios, die ihn begleiteten. Dass diese mir Seile hinabwarfen, die ich um mich band, und dass sie mich mit Hilfe dieser Seile vom Grunde des furchtbaren Brunnens emporhoben und mich auf frisches grünes Gras legten. Dass ich daraufhin die Heilige Jungfrau Maria zu lobpreisen begann, wie ein Kind weinte und sodann erneut in Ohnmacht versank.
Dass ich in einem kleinen Dorf der Indios erwachte und man mir sagte, ich sei einige weitere Tage bewusstlos geblieben. Dass mich die Bewohner dieses Dorfes ernährten
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