Sumerki - Daemmerung Roman
erhalten hatte, als dieser starb, und dieser vom Großvater. Und dass er, wenn der Tag seines Todes kommen würde, die Handschrift seinem Sohn weitergeben werde, und dieser sodann ebenfalls zum Priester und Hüter des Buches werden müsse. Und dass dies so fortgehen müsse, solange der große Gott der Indios Itzamná und die übrigen Götter lebten und die Welt bestehe. Denn das teuerste und furchtbarste Geheimnis der heiligen Handschrift bestehe darin, dass die Prophezeiung richtig sei, die Berechnung der Sterndeuter, die das Buch ausgelegt hatten, jedoch falsch.
Dass jeder Sohn des Volkes der Maya und jeder Mensch auf dieser Welt aus jedem anderen Stamm, gleich welchem Gott sie dienten, dessen gewahr sein müsse, dass die Welt ebenso endlich ist wie der Mensch sterblich; und dass die heilige Handschrift dafür Zeugnis ablege und auf ewig daran erinnere und daher um jeden Preis aufbewahrt werden müsse.
Dass die Versuchung, die Weissagung auszulegen und den genauen Tag des Weltuntergangs mit Hilfe dieses Buches zu berechnen, jedoch sündhaft und zerstörerisch sei; und ebenso wie sie einst der Grund für den Fall des Reichs der Maya gewesen war, könne sie auch künftige Reiche, ja alle Menschen auf der Erde verführen und dann in Staub und Asche verwandeln. Dass der Mensch schwach, feige und wissbegierig sei, und deshalb sei derlei Erkenntnis für ihn eine große Gefahr.
Dass ich daraufhin den Priester fragte, ob das heilige Buch nicht dem ruchlosen Mönch Fray Joaquín in die Hände gefallen sei, als dieser den Tempel der Maya in Calakmul ausgeraubt habe. Dass der Priester mich daraufhin tröstete und erklärte, in der von den Soldaten geschändeten Pyramide habe sich nur eine Fälschung befunden, die äußerlich dem gesuchten Manuskript ähnele, deren Inhalt jedoch mit Absicht falsch und eitel sei.
Dass ich ihn ebenfalls fragte, warum er mir, einem Fremden, dieses Geheimnis anvertraut habe, das doch vielen Söhnen seines eigenen Volkes nicht bekannt sei. Worauf er mir entgegnete, dass die Göttin Ixchel ihm keinen Sohn geschenkt habe, und dass er im Aussterben seines Stammes ein Zeichen für das Aussterben der Maya sehe. Dass man ihm von den bärtigen Menschen von jenseits des Meeres berichtet habe, von ihren wundersamen Booten, ihren donnergleichen Waffen, ihrer Kühnheit im Kampfe. Dass all dies seine Neugier geweckt habe und er den großen Itzamná gebeten habe, ihm die Wahrheit über diese
Menschen zu offenbaren. Und dass jener ihm eine Vision gesandt habe, in der die bärtigen Menschen die Länder der Maya, der Azteken und anderer Völker unterworfen hätten und den größten Teil der Welt beherrschten.
Dass der Hüter des Buches daraufhin beschlossen habe, das Geheimnis vom Ende der Welt nicht mit sich ins Grab zu nehmen, nur weil er keinen Sohn habe; und dass sein Volk es an ein anderes Volk weitergeben müsse, wenn es keinen eigenen Erben hinterlasse. Dass er nach diesem Beschluss zu seinen Göttern gebetet habe, so zu dem Todesgott Ah Puch und dem Sonnengott Ah Kin und zu Itzamná selbst, und sie fragte, ob seine Absicht rechtens sei. Und dass er ein Zeichen erhalten habe, das seinen Glauben daran bestärkte.
Dass dies vor einigen Monaten geschehen sei und dass der Priester seither im Vertrauen auf den Willen der indianischen Götter geduldig auf ihre Hilfe gewartet habe, bis Itzamná mich in seinen ›cenote‹ gelegt und auf mein Leben verzichtet habe. Dass ich nach seinem Verständnis von den Göttern dazu ausersehen worden sei, die alte Handschrift von ihm in Empfang zu nehmen, um sie vor Verfall und Vergessen zu bewahren.
Dass meine dritte Frage an ihn war, wie man erfahren könne, wann der wahre Tag des Jüngsten Gerichts anbrechen werde und was dessen Ursache sein werde. Dass der Priester daraufhin lächelte und mir sagte, die bärtigen Menschen seien ebenso schwach und wissbegierig wie seine Stammesgenossen; die Berechnungen, die sein Vater angestellt habe, gäben der Welt noch etwa sechshundertdreißig Tzolk’in, was in unserer Zeitrechnung vierhundertfünfzig Jahren entspricht. Dass er mich jedoch mehrfach vor der Versuchung warnte, die genaue Stunde des Weltuntergangs zu berechnen, da dies nicht des Menschen, sondern der Götter Angelegenheit sei.
Und dass er mir sagte: Die Welt wird dann untergehen, wenn Itzamná stirbt, der Vater und Älteste der Indio-Götter, weiser Herrscher über Tag und Nacht.
Und das Ende der Welt wird angekündigt durch das Siechtum dieses Gottes,
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