Sumerki - Daemmerung Roman
Datschenzäune mit schiefen Pforten, die verschiedene Claims abzustecken schienen, Feuerleitern, die im Himmel verschwanden, und über all dem, auf der Höhe der obersten Etage, eine hölzerne, überdachte Galerie wie an der Burgmauer eines französischen Adelssitzes.
Gesprächsfetzen drangen an mein Ohr: fröhliche und launische Kinderstimmen, ein verliebtes weibliches Gurren, lautes Fluchen, das Gläserklirren einer Festgesellschaft, doch war niemand zu sehen, und die verstaubten Fenster waren tot und leer. Ich ahnte, dass der Alte absichtlich diese Toreinfahrt genommen hatte, um sich zu verstecken. Mit Erfolg: Schon bald wurde das Geräusch seiner Schritte von den geisterhaften Stimmen übertönt, wie der Schneesturm die Fußabdrücke eines Wanderers verwischt.
Eine Zeitlang irrte ich noch umher, bis ich plötzlich in einer Sackgasse vor einer niedrigen Holztür stand, über der ein kleines, schräges Schieferdach aus der Wand ragte. Das Treppenhaus dahinter war nicht minder seltsam: ein düsterer, steil ansteigender Schacht, in dem sich eine schmale, höchstens einen halben Meter breite Treppe hinaufwand. Der allmächtige Itzamná sei mein Zeuge: Ich wäre sie bis ganz nach oben hinaufgestiegen, nur um den unfassbaren Alten einzuholen. Doch da erblickte ich plötzlich ein helles
Rechteck weiter vorne, wo eine Tür, vom unruhigen Wind bewegt, auf- und zuschlug. Das Treppenhaus war also ein Durchgang, und der Alte war wohl kaum die schwankenden Stufen hinaufgeklettert, sondern auf der anderen Seite wieder nach draußen geschlüpft. Ihm nach!
Ich stieß die Tür auf, trat hinaus und erstarrte. Auf unerklärliche Weise hatte das Hinterhof-Labyrinth mich zu der Straße im Arbatviertel geführt, wo sich das Gebäude der ehemaligen Kinderbibliothek und somit mein altes Übersetzungsbüro befand. Ich war also gar nicht weit weg von meiner eigenen Wohnung. Für den Rückweg hatte ich nicht einmal ein Drittel der Zeit gebraucht, die ich angesetzt hatte, um zu Akab Tsin zu kommen! Was war das für eine Hexerei?
Im Gegensatz zu den merkwürdigen Gassen und Hinterhöfen, durch die ich meinen mutmaßlichen Auftraggeber verfolgt hatte wie Alice den weißen Hasen, drängten sich hier dichte Menschenmengen. Das nächststehende Gebäude - ein solides, graues Wohnhaus - war wie von einer riesigen Axt in der Mitte gespalten worden. Die Ränder der Wunde standen ziemlich weit auseinander und entblößten die Innereien. Vom Erdgeschoss bis hoch ins fünfte Stockwerk hatte man einen freien Blick auf die Wohnräume: mal ein Schlafzimmer mit alten Tapeten an den Wänden, mal ein teuer renoviertes Wohnzimmer, mal hing eine Toilettenschüssel mitten über dem Abgrund. Das Bild erinnerte an ein riesiges aufklappbares Puppenhaus. Bisweilen zeigten sich in den Türöffnungen die blauen Overalls der Rettungskräfte, die nachsahen, ob jemand irgendwo noch in der Falle
saß. In der Nähe des Hauseingangs ragte bereits ein kleiner Hügel aus Sofas, Fernsehern, Computern und mit Kleidern vollgestopften Koffern auf. Die Bewohner wollten ihre wertvollsten Besitztümer in Sicherheit bringen und forderten lauthals, die Miliz solle die Absperrung aufheben und ihnen Zutritt zu ihrem Haus gewähren, bevor es ganz einstürzte.
War die alte Bibliothek intakt? Ich fühlte einen Stich in der Brust: Dieses unauffällige Gebäude im Bauch des Arbat, das wohl kaum jemand benötigte, war einer der wenigen Orte in Moskau, für die ich eine unerklärliche Zärtlichkeit empfand.
Das Erdbeben hatte es tatsächlich verschont. Dieser Holzbau aus dem 19. Jahrhundert war stabiler gewesen als die monumentalen Blöcke aus der Stalinepoche, die geschmacklos bombastischen Wohntürme der Reichen und die mehrstöckigen Hütten aus der Chruschtschowzeit. Die Plomben der Kriminalabteilung waren aufgebrochen worden.
Ohne genau zu wissen warum, trat ich zur Tür und griff nach der Klinke. Sie ließ sich unerwartet leicht nach unten drücken, und die Tür schwang mit einem unzufriedenen Quietschen auf. Hastig blickte ich mich um, dann trat ich ein. Die Ausschreitungen weiter hinten kamen mir jetzt zupass: In der allgemeinen Aufregung würde niemand den Eingang eines verlassenen Übersetzungsbüro beachten.
Im Innern herrschte dichtes Halbdunkel, und die Luft war stickig wie in einer seit Jahrhunderten hermetisch verschlossenen Gruft. Weiter hinten nahm ich auf dem Boden einen breiten Streifen wahr - schwarz und schrecklich. Offenbar
hatte man auch den Inhaber des
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