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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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Zuflucht. Also beschloss ich, mich in den bis zur Operation verbleibenden Wochen voll und ganz meinem Lebenswerk zu widmen. Und dann geriet ich in diese teuflische Falle. Plötzlich hatte man mich in einen Safe aus Morphium eingeschlossen, dessen Zahlenkombination mir unbekannt war.«
    »Und Sie glauben, dass dieses Buch, das Sie gefunden haben, dieses Tagebuch eines fiktiven Konquistadoren, der Schlüssel ist, der Ihnen hier raushilft? Und ich soll Ihnen die verborgene Bedeutung dieser Botschaft erklären?«
    »Ich weiß nicht genau, ob es mir helfen kann, mich zu befreien. Doch es zu lesen und die Botschaft zu begreifen, das ist es, wozu ich in dieser Welt bin. Und wozu ich Sie ins Leben gerufen habe.«
    »Und diese Erdbeben«, flüsterte ich, »sind das Echo Ihres Schmerzes.«
    »Ja. Aber nicht nur des physischen. Dazu gehört auch die Angst vor dem Tod, die Verzweiflung. Wenn dir die Diagnose keine Hoffnung lässt, und dein behandelnder Arzt sagt, dass er nicht zu der Operation rät, da du sie nicht überstehen könntest und die Chemotherapie deine Leiden nur noch verschlimmern würde, dann beginnt eine neue Phase. Du sagst dir: Die moderne Schulmedizin mit ihrer selbstgefälligen Art mag nicht in der Lage sein, mit dieser Heimsuchung fertigzuwerden - aber das muss noch nicht bedeuten, dass alles verloren ist. Es gibt ja noch Wundermittel aus Haiknorpel und Ginseng und esoterische Heiler und reinigende
Meditationen. Doch dir zittern immer mehr die Knie, und weil du nicht mehr weißt, worauf du dich noch stützen sollst, wirst du auf einmal fromm, auch wenn du in jungen Jahren Heiligenbilder bespuckt hast. Zu all dem klingelnden Kleingeld schiebst du plötzlich große Scheine durch die Schlitze der kirchlichen Blechbüchsen, bekreuzigst dich wie ein Wahnsinniger vor den Ikonen, verbeugst dich vor ihnen mit dem Eifer eines reuigen Sünders, dass du dir Beulen auf der Stirn holst, und hoffst insgeheim, dass die himmlische Buchhaltung das noch in ihren Bilanzen berücksichtigt. Doch zu spät: Der Herr hat bereits alles verfügt, und im Buch der Lebenden für das kommende Jahr ist dein Name nicht eingetragen. Die Ärzte konstatieren eine erneute Verschlechterung und schlagen dir damit die letzte Krücke aus der Hand. Nun forderst du die ganze Welt heraus und beginnst mit dem Mut eines Kamikaze alles abzustreiten, was mit dir vorgeht - von Anfang bis Ende. Du brüllst die Ärzte an, verspottest die trauernden Mienen deiner Familienmitglieder, sagst deinen Freunden, die dich unterstützen wollen, sie sollen sich nicht in fremde Angelegenheiten einmischen. Du revoltierst, solange die Kräfte reichen, doch eines Tages fällst du mitten auf der Straße in Ohnmacht, und da bringen sie dich in die Klinik - die beste, die ein einflussreicher Freund für dich ausgesucht hat. Und dort versinkst du dann, willenlos am Tropf hängend, benebelt von Schmerzmitteln, in einen endlosen Alptraum, den du bewusst erlebst, doch aus dem du nicht aufwachen kannst … Abgeschnitten von der Außenwelt, eingekerkert in dir selbst, suchst du nach einer Möglichkeit, alles umzukehren, nach Rettung um jeden Preis … und findest sie
nicht. Blind tappst du umher, auf der Suche nach dem Ausgang, doch überall stößt du nur auf Stacheldraht … Geben Sie mir die Antwort: Wo ist der Ausgang? Was habe ich zu erwarten?«
     
    Ich hatte also die Rolle des Orakels zu spielen, von dem ein endgültiges Urteil ohne Berufungsinstanz erwartet wurde. Die Rolle eines Dolmetschers, der dem Unbewussten dabei half, der Ratio etwas grenzenlos Wichtiges mitzuteilen.
    Während ich schwieg und meine Gedanken ordnete, öffnete der Alte mit zitternden Fingern seine Zigarettenschachtel, begann zu rauchen und beruhigte sich allmählich. Ich versuchte mich einstweilen an die letzten Kapitel zu erinnern, die ich übersetzt hatte, und mir wurde immer mehr bewusst, dass es mir nicht vergönnt sein würde, ihm das zu geben, wonach er sich so sehr sehnte: Trost und Hoffnung.
    Er hob sein Kinn, und ich begriff, dass ich ihn nicht würde belügen können. Er war einer jener Menschen, die bei ihrer Hinrichtung auf die Binde verzichteten, um dem Erschießungskommando in die Augen sehen zu können. Sein kurzer Mantel über dem Krankenhauspyjama erschien mir jetzt wie ein Militärrock, den der General nachlässig über seine ordenbesetzte Uniform geworfen hatte.
    Ich schluckte und sagte: »Ich bin bereit, Ihnen alles zu erzählen. Gehen wir hinein, mir ist kalt …«

CAPÍTULO I

    W

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