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Sumerki - Daemmerung Roman

Titel: Sumerki - Daemmerung Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dmitry Glukhovsky
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dem Papier auf, denn ich fürchtete mich davor, Knorosow in die Augen zu sehen. Leise legte ich die Blätter zusammen. Ich hatte nicht vor, den Gesprächsfaden erneut aufzunehmen. Der Text der Weissagung war trocken und gnadenlos wie das Urteil eines Militärtribunals. Er ließ keinen Spielraum für Interpretationen. Ich hoffte, damit meine Pflicht erfüllt zu haben und dem Alten nicht auch noch erklären zu müssen, dass das Tagebuch, auf das er so gesetzt hatte, ihm nicht den Hauch einer Hoffnung ließ.
    Doch Knorosow schwieg. Nach einer Minute begann ich daran zu zweifeln, dass er das soeben Verlesene begriffen hatte oder begreifen wollte. Mein Part war also noch nicht ganz zu Ende. Bevor der Vorhang fiel und das Licht ausging, hatte ich noch den eigens für mich geschriebenen Schlussmonolog zu sprechen. Ich musste das Ende eines Menschen und damit das Ende einer ganzen Welt verkünden. Aber meine Zunge war am Gaumen festgetrocknet. Zweimal öffnete ich den Mund, doch fand ich nicht die richtigen Worte und blieb stumm. Schließlich stieß ich etwas hervor, ungelenk und schwerfällig, als bestände dieser kurze Satz aus kleinen Holzwürfeln, die in meinem Hals stecken geblieben waren:
    »Sie werden sterben.«
    Er reagierte nicht. Beunruhigt hob ich den Blick: Hörte er überhaupt, was ich sagte?
    Itzamná stand drohend über mir, die Arme vor der Brust gekreuzt. Seine Zähne nagten an den bleichen Lippen, und er schüttelte stur seinen grauen Kopf. Ja, Rettung konnte ich ihm nicht versprechen. Doch beim erneuten Lesen des
Tagebuchs war ich wieder und wieder auf die Worte der indianischen Weissagung gestoßen. Ich musste immer noch daran denken, und allmählich begriff ich, dass seine Vorstellungskraft mich doch nicht umsonst ins Leben gerufen hatte. Ich konnte ihm helfen.
    »Akzeptieren Sie es. Akzeptieren Sie es einfach.«
    Hatte nicht er selbst gesagt, dass die Krämpfe, in denen sich die Erde in den letzten Wochen gewunden hatte, nicht nur und nicht so sehr sein körperliches Leiden, sondern vielmehr die Verstörung abbildeten, die sein Verstand und seine Gefühle durchlebten?
    Wenn ich wirklich nur ein aufblitzender Neuronenfunke in seinem Gehirn war, so war es mir nicht gegeben, die Krankheit, die ihn allmählich umbrachte, zu heilen oder die Qualen, die an seinem Körper nagten, zu lindern. Nur eines stand in meiner Kraft: seiner Seele Frieden zu schenken. Der nutzlose Kampf hatte ihn verhärtet, doch er wollte den Glauben an eine mögliche Rettung einfach nicht aufgeben. Wie sollte ich ihn davon überzeugen, dass der Schmerz nachlassen würde, sobald er den Widerstand aufgab?
    »Die Handschrift sagt, dass die Welt endlich ist und der Mensch sterblich. Bereits an dem Tag, an dem wir das Licht der Welt erblicken, ist jeder von uns dem Tode geweiht. Auch wenn Sie Ihr ganzes Leben der Erforschung der Maya gewidmet haben, so haben Sie doch ihre wichtigste Weisheit nicht erkannt. Denn dadurch, dass dieses Volk stets an den Tod dachte, bezwang es seine Angst davor. Wir dagegen verneinen den Tod, erfinden Medikamente, Diäten und Atemgymnastik, um unsere Existenz wenigstens um einen Tag zu verlängern, als würden wir diesen mühsam erkämpften
Tag anders leben, nicht so erbärmlich und sinnlos wie die übrigen Tage, die uns bestimmt sind. Doch wenn wir uns mit Illusionen der Unsterblichkeit trösten, verschlimmern wir nur den Schmerz und das Grauen an dem Tag, da die Unabwendbarkeit des Endes offensichtlich wird. Jeder Maya wusste, dass er sterben, ja dass die ganze Welt eines Tages vergehen würde. Es war vorherbestimmt. Es war eingeschrieben in ihren Prophezeiungen, in jeder Zelle des menschlichen Körpers und in jedem noch so winzigen Ziegelstein, aus dem das Weltgebilde besteht. Spielt es da eine so große Rolle, wann genau die Stunde des Todes eintritt? Ja, es braucht Mut, dies zu sagen. Den Indios wurde dieser Mut bereits in jungen Jahren anerzogen, und ich glaube nicht, dass es ihnen leicht fiel, sich von ihren Instinkten zu verabschieden. Doch im Gegenzug erlangten sie das Recht, ruhig zu leben und in Würde zu sterben. Wie Menschen, nicht wie Tiere.«
     
    Ich verharrte, bereit ihn anzuhören, doch Itzamná würdigte mich keiner Antwort. Verächtlich und böse blickte er mich an und fuhr fort den Kopf zu schütteln. Die Luft um den Alten herum lud sich so sehr auf, dass ich plötzlich von ihm fortgestoßen wurde. Es trat ein, was ich befürchtet hatte: Meine Interpretation der Prophezeiung war

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