Sumerki - Daemmerung Roman
ir nahmen in zwei eckigen, engen Sesseln Platz, ich öffnete die Mappe und begann ihm die letzten beiden Kapitel vorzulesen. Er lauschte aufmerksam, ja angespannt jedem meiner Worte, während ich mich in eine Art mechanisches Piano verwandelte, das seelenlos seine Partitur von perforierten Walzen abspielte. Meine Gedanken waren weit weg. Zum ersten Mal sah ich dieses raffinierte, groteske, furchterregende und faszinierende Gemälde als Ganzes. Nun waren mir sämtliche Teile der Geschichte bekannt, und jedes davon saß am richtigen Platz.
Mich verwunderte nur, mit welcher Gleichgültigkeit ich, der ich doch nur ein Teilchen dieses fiktionalen Universums und seines erlöschenden Gottes war, über das nahende Ende nachdenken konnte. Aber war ich nicht gerade deshalb zum Orakel erkoren worden, weil ich imstande war, im richtigen Augenblick die Teile seiner Persönlichkeit zusammenzusetzen und die Brücken zwischen den verschiedenen Bereichen seines dämmernden Bewusstseins - einschließlich seiner Hölle - zu schlagen? Weil ich in der allmählich zerfallenden Innenwelt dieses Menschen das letzte Fünkchen Verstand war?
Die furchtbare Krankheit hatte zu schnell von Knorosow Besitz ergriffen. Der wahnsinnige, ungezügelte Lebenshunger, der in dem Alten trotz seiner Jahre brodelte, machte es ihm unmöglich, sich mit seinem Befund, mit den düsteren
Prognosen der Ärzte abzufinden, und nun blieb ihm einfach keine Zeit mehr, mit sich selbst ins Reine zu kommen - noch immer suchte er fieberhaft nach etwas, das ihm wenigstens einen Anflug von Hoffnung geben konnte …
Doch die besorgten Ärzte hatten den Aufrührer aus Sorge, er könne sich verletzen, in eine Zwangsjacke gesteckt und in einen tiefen narkotischen Teich geworfen. Mit verlogenen Stimmen versprachen sie ihm die rettende Operation, obwohl sie genau wussten, dass es bereits zu spät war. Verraten und gefesselt, tauchte der alte Mann immer tiefer in den Strudel seiner Träume hinab, und diese speisten sich aus den alten Mythen der Maya, in die er sich in den letzten Jahren vor der immer kälter und fremder werdenden Wirklichkeit zurückgezogen hatte.
Doch anstatt den Fluss der Gedanken anzuhalten, hatte das Schmerzmittel ihn einfach umgekehrt und neue, verworrene Verläufe vorgegeben. In diesem ausweglosen, endlosen Alptraum, den der Alte stellvertretend für alle Beteiligten durchleben musste, hatten die arglistigen Maya die entscheidenden Etappen seines Leidens durch ihre eigenen Metaphern und Bilder ersetzt.
Gewisse Teilchen seines »Ich« erinnerten sich jedoch noch immer an das furchtbare Unheil, das ihm drohte, und sandten daher Alarmsignale aus, die wiederum, im Prisma seines Unbewussten gebrochen, sich als Kapitel eines Konquistadoren-Tagebuchs manifestierten, das Knorosow gleichsam an sich selbst geschrieben hatte …
Seine Krankheitsgeschichte war somit zur Geschichte der Welt geworden, die Prognosen der Ärzte zu den apokalyptischen Weissagungen der indianischen Magier und der Schöpfer
dieses halluzinatorischen Mikrokosmos zu Itzamná, dem allmächtigen Gott, Schutzherr der ohnmächtigen Wissenschaft und Inbegriff nutzloser Weisheit.
Der Gegensatz zwischen den nach Wahrheit strebenden Seiten seiner Person und jenen Kräften, die sich animalisch an das Leben klammerten und jegliches Bemühen um Offenbarung zu verhindern trachteten, hatte sich in seinem Traum als Kampf zwischen den Dämonen der Maya und den nach verbotenem Wissen strebenden Menschen manifestiert. Sie alle waren für ihre Neugier bestraft worden - nur ich war wie eine unantastbare heilige Kuh übrig geblieben. Mir war es vergönnt gewesen, weit in die tiefsten Geheimnisse vorzudringen, um sodann den himmlischen Schleier zu lüften und mit den Göttern zu sprechen.
Und so saß Knorosow-Itzamná nun vor mir und lauschte geduldig den letzten Worten des letzten Kapitels aus seinem Tagebuch. Er hatte bekommen, was er wollte. Mir hatte sich alles offenbart: Ich konnte ihm die Wahrheit überbringen, nach der ihn dürstete, so schrecklich sie auch war …
»Und das Ende der Welt wird angekündigt durch das Siechtum dieses Gottes, woraufhin auch die Welt zu fiebern beginnt.
Und wenn sich seine Augen zum letzten Male schließen, wird die Welt in ewige Finsternis getaucht.
Und wenn er im Todeskampf liegt, wird sich die ganze Welt in furchtbaren Erdstößen winden, und die Berge werden herabstürzen und die Meere aufschäumen.
Und dann wird das Ende anbrechen.«
Ich blickte nicht von
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